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Literatur: Die Himmel der Wollust

Zwischen Fakten und Aktivismus: Volkmar Sigusch erforscht die Geschichte der Sexualwissenschaft

Immer, wenn wieder einmal ein Sexualstraftäter den Volkszorn erregt, werden wir daran erinnert, dass die Triebliebe nicht nur eine befreiend-lustvolle, sondern auch eine aggressiv-zerstörerische Seite hat. Beiden gilt die disziplinierende Aufmerksamkeit der bürgerlichen Gesellschaft, wobei das, was gezähmt werden soll, die Eigenmächtigkeit des Triebs, regelmäßig aus der erzieherischen Zurichtung ausbricht und dabei neue Begierden produziert.

So ist es kein Zufall, dass die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der menschlichen Sexualität befasst, just in dem Augenblick auf die Bühne tritt, in dem sich einerseits die wissenschaftlichen Machtstrategien an den Körper heften, andererseits soziale Bewegungen entstehen, die das „biologische Schicksal“ nicht mehr einfach hinnehmen wollen. Das Liebes- und Geschlechtsleben wird nun im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe genommen und rubriziert nach „natürlich-normalen“ und „pathologisch-perversen“ Erscheinungsformen, Sexualität aber auch als „soziale Frage“ thematisiert.

Volkmar Sigusch, Gründer des nach seiner Emeritierung 2006 abgewickelten Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft und Nestor der Disziplin, lässt seine groß angelegte und reich bebilderte Geschichte des Faches nicht erst mit dem Dermatologen Iwan Bloch, der den Begriff Sexuologie um 1900 eingeführt hat, beginnen, sondern fünfzig Jahre früher. Seine Gewährsleute heißen Paolo Mantegazza und Karl Heinrich Ulrichs. Letzterer befasste sich bereits mit den verschiedenen sexuellen Vorlieben und „Zwittern“, die das etwas später konstruierte „dritte Geschlecht“ Magnus Hirschfelds vorwegnahmen.

Das auslaufende 19. Jahrhundert steht ganz im Zeichen der Kontrolle der Sexualität und dem Kampf gegen die Onanie. Gegen die „höllische Wollust“ zog die patriarchal-protestantische Selbstkontrolle zu Felde, „Hand an sich zu legen“ galt als krankmachend, gar lebensbedrohlich. Männliche Perversion und weibliche Frigidität, Sadismus und Masochismus, kranke Fantasie und pathologische Wünsche feiern in der „Psychopathia Sexualis“ ihre fröhlichen Urständ.

Ihre Blüte erlebt die Sexualwissenschaft jedoch erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt, weil im Fortgang des Ersten Weltkriegs und danach Geschlechtskrankheiten grassieren. Mit Albert Eulenberg, Albert Moll und Iwan Bloch wandten sich die Mandarine der Medizin dem neuen Forschungsfeld zu. Von Anfang an ist die Disziplin zerrissen zwischen den Ansprüchen der „reinen Wissenschaft“ und dem „bewegten“ Anliegen, das Aktivisten wie Helene Stöcker im Kampf gegen Frauenunterdrückung und für Mutterschutz oder Magnus Hirschfeld für die Emanzipation des „dritten Geschlechts“ verfolgen. Zeitweise gehen „Wissenschaft“ und „Bewegung“ einträchtig Hand in Hand, um sich dann wieder gnadenlos zu zerfleischen.

Sigusch zeichnet kenntnisreich und detailversessen nicht nur die ungemein verwickelte institutionelle Entwicklung des Fachs, sondern auch die personellen Verbindungslinien nach und deckt Konkurrenzverhältnisse – Albert Moll versus Magnus Hirschfeld, Sigmund Freud versus Albert Moll und andere mehr – auf. Dabei geht der Streit in inhaltlichen Fragen gelegentlich mitten durch die Fraktionen, zum Beispiel in der Haltung zur Homosexualität oder zur „positiven“ Eugenik. Denn viele der linken Kombattanten, die in bester Absicht das „Elend des Geschlechtslebens“ bekämpften, waren nicht abgeneigt, im Dienste der menschlichen Vervollkommnung gezielt in die Fortpflanzung einzugreifen.

Die Frauenrechtlerin Stöcker gehörte ebenso dazu wie Iwan Bloch oder Magnus Hirschfeld, während sich sowohl Albert Moll als auch die Ärzte Julius Wolf oder Max Marcuse diesem Ansinnen verweigerten. Marcuse übrigens wird von Sigusch nicht nur als engagierter Arzt, sondern auch als unterschätzter und herausragender Sexualwissenschaftler gewürdigt.

Dass sich auffallend viele Juden in der neu entstehenden Disziplin tummelten, hält der Autor nicht für verwunderlich. In der Sexuologie, schreibt er, konnten „wegen deren ‚schmutziger’ Materie jüdische Ärzte am ehesten eine Karriere machen“. Auf diese Weise wurden Juden von den „sauberen, männlichen Fächern ferngehalten“. Am berühmtesten Vertreter des Faches, an Magnus Hirschfeld, machte sich dann fest, was die Nazis am meisten hassten: Er war Jude, Sozialist und homosexuell. Das veranlasste sie, bereits am 6. Mai 1933 sein Institut zu plündern und seine Schriften zu verbrennen. Aus diesem Grund will Sigusch sein Opus magnum auch als Beitrag verstanden wissen, „die jüdischen und die linken Vertreter seines Faches, die aus dem Land getrieben oder gar ermordet wurden, angemessen zu würdigen“.

Gleichzeitig verschweigt Sigusch das problematische Erbe der Vorkriegs-Sexualwissenschaft nicht, das – aufgrund der schwierigen Anfänge nach 1945 – von der nachrückenden Wissenschaftsgeneration lange ignoriert worden ist. Gerade Hirschfeld sei in jenem „biologistisch-somatologisch-eugenischen Diskurs“ mitgeschwommen, der auch heutzutage wieder die Lebenswissenschaften leite; deshalb, vermutet er, wohl auch die derzeitige Hirschfeld-Renaissance. Doch auch die Neugründer des Faches in der Bundesrepublik – allen voran Hans Giese und Hans Bürger-Prinz – hatten Scheuklappen auf, wenn es sich um Kontinuitäten zur NS-Ära handelte.

Der dritte Teil dieser mitunter enzyklopädisch anmutenden „Geschichte der Sexualwissenschaft“ liest sich wie ein spannender Kommentar auf den derzeitigen 68er-Hype. Zwar gab es in den sechziger Jahren so etwas wie eine sexuelle Emanzipation – vor allem der Frauen –, und der Homosexuellenbewegung ist es gelungen, den § 175 nach 100-jährigem Kampf am Ende doch noch zu kippen, insgesamt aber beurteilt der Autor die „sexuelle Revolution“ keineswegs euphorisch. Denn im Zuge der „Technisierung des Sexuellen“ im Zeitalter der „Neosexualitäten“ – so der Titel von Siguschs vorangegangenem Buch – sei der „Sex“ eben nicht in das „Reich der Freiheit“, wie Wilhelm Reich glaubte, aufgestiegen, recht behalten habe eher Herbert Marcuse mit seinem Theorem der repressiven Entsublimierung: „Je mehr wir von sexuellen Reizen überflutet werden, desto weniger erregt uns.“

Die kritische Sexualwissenschaft, die aus der Bewegung von 1968 hervorgegangen ist – das Frankfurter Institut, in das Sigusch die Sex-Aktivisten Günter Amendt und Martin Dannecker nachholte –, indessen führte immer ein randständiges Dasein. Einen Lehrstuhl für Sexualmedizin gibt es bis heute nicht – möglicherweise auch deshalb, weil die Fachvertreter wie zu Zeiten Molls und Hirschfeld zerstritten sind.

Vielleicht hängt die Abschottung der Mediziner auch, so Sigusch mit der Besonderheit der Disziplin zusammen. Das Sexuelle, das habe schon Freud erkannt, eigne sich nicht „zur guten Substanz“, und wer sie erforscht, muss sich vergegenwärtigen, dass das, was er wissenschaftlich zu domestizieren hofft, sich in Form der Perversion wieder entzieht und von Individuen eben nicht unter Kontrolle zu halten ist. Der „Schwulenbewegung“ aber gibt Sigusch auf den Weg, dass die Spiele, Feste und Paraden, mit denen sie sich feiert und für die ihr Beifall von ihren Verächtern zuteil wird, schnell vorbei sein könnten in einer tiefen ökonomischen Krise oder einem politischen Rechtsruck. Dann wünscht er ihr unerschrockene Verteidiger wie Ulrichs, die um der Freiheit anderer Willen auf eigene Vorteile verzichten.

Volkmar Sigusch: Geschichte der

Sexualwissenschaft. Campus Verlag,

Frankfurt a. M. 2008. 719 Seiten, 39,90 €.

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