zum Hauptinhalt
Heuss
© dpa

Literatur: "Kriegsfreiwilliger des öffentlichen Lebens"

Nicht nur Papa Heuss: Die Briefe des ersten Bundespräsidenten zeigen ihn als Erzieher zur Demokratie.

Er ist eine blasse Erinnerung aus den Anfangszeiten der Bundesrepublik, und die ist dazu auch noch falsch. Vielleicht ist es etwas sehr pointiert, das aktuelle Bild von Theodor Heuss so zu charakterisieren, aber trifft es nicht zu? Viel ist von dem ersten Bundespräsidenten nicht im Gedächtnis geblieben, und wenn, dann ist es mutmaßlich der Papa Heuss und irgendeine Form von schwäbelndem Biedersinn. Doch die Papa- Heuss-Pantoffeln wollte er sich nie anziehen lassen, und als Persönlichkeit war er fraglos eine der interessantesten Gestalten der Bundesrepublik. Die Briefe von 1945 bis 1949, mit denen eine von der bundesoffiziellen Stuttgarter Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus herausgegebene Werkausgabe beginnt, könnten deshalb eine überfällige Wiederentdeckung einleiten.

Tatsächlich sind diese rund 600 Seiten ein eindrucksvolles Zeugnis von Zeit und Zeitgenossenschaft, vermittelt durch eine seltene Gabe zum Briefschreiben. Diesen Ruf hatte Heuss immer; nun wird er beglaubigt über die ganze Breite der Formen, von der knappen Mitteilung, die ausführliche Auseinandersetzung bis zum großen "Erzählbrief" an Frau, Familie und Freunde. Natürlich formuliert der gelernte Journalist gut, selbstverständlich geht es bei dem Essayisten und Buchautor gebildet zu, aber bestimmend ist doch die bezwingende persönliche Temperierung. Das lässt aus den Briefen einen Charakter erstehen, in dem sich die durchaus vorhandenen honoratiorenhaften Züge mit kräftiger, lockerer, gelegentlich ziemlich entschiedener Performance verbinden.

1945 erst Lizenzträger der "Rhein-Neckar-Zeitung" in Heidelberg – dorthin hatte sich Heuss aus Berlin wegen der "Bomberei" zurückgezogen –, wird er bald darauf Minister in Stuttgart, O-Ton Heuss: Er folgt "dem Ruf der Heimat", auch "wenn er in englischer Sprache erfolgte". Doch ist es vor allem der mühsame Nachkriegsalltag, der die Briefe durchtränkt, auch in der Selbstbeobachtung: "Ich war auf 105 Pf. heruntergerutscht, bei 1,79 m etwas zu wenig." Es geht um Ernährung, Heizung, Zigarren, die eben fertiggestellte Robert-Bosch-Biographie wird als Tauschware gegen Hemdenstoff angeboten. Das "Dauerproblem" aber ist das Begreifen der "seelischen Verfassung" der Deutschen. Heuss bringt sie auf einen Nenner, der vielleicht im Rückblick auf die Dramatik der Nachkriegsjahre nicht immer gesehen wird: einer „Apathie weiter Schichten“, des "Nihilismus" der Jugend gegenüber der "Staats- und gesellschaftlichen Ordnung", einer großen "Müdigkeit".

Der Briefwechsel ist auch das Dokument eines politischen Aufstiegs. Zwar dauert die Ministerzeit nur fünfzehn Monate, dann opfert Heuss das Amt dem Koalitionsproporz, durchaus bereitwillig. Folgenreicher ist seine Karriere erst als liberaler Vorsitzender in der amerikanischen Zone, dann bei dem kurzen Versuch, eine liberale gesamtdeutsche Partei ins Leben zu rufen, schließlich in der westdeutschen FDP. Als "Kriegsfreiwilliger des öffentlichen Lebens", wie der Erz-Zivilist in überraschend militanter Terminologie formuliert, ist er voll im politischen Geschäft. Das ist noch der Politikalltag der Vor-Mediengesellschaft: Man fragt Gustav Heinemann, damals CDU-Politiker, brieflich, ob die Zeitungsnachricht zutreffe, dass er behauptet habe, SPD und FDP könnten für evangelische Christen keine "politische Heimat" sein – worauf sich ein Briefwechsel entwickelt. Pausenlos unterwegs ist Heuss gleichwohl, er könnte "jeden Abend eine Rede halten", als Mitglied des Parlamentarischen Rates gewinnt er endgültig politisches Top-Format. Der letzte Brief ist vier Tage vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten datiert.

Doch zeichnet es Heuss aus, dass er mit Laufbahn und Betrieb ironisch umgeht. Zum Parteiführer, gesteht er, bringe er eigentlich nichts mit "außer einer gewissen Beredsamkeit und dem Talent, Schwierigkeiten auszuweichen". Immerhin halte er "den Leuten die großen Reden, die ihnen gefallen, und verhüte in den Sitzungen, dass Personalehrgeize zum Intrigenbetrieb führen". Dass er nicht zum Lesen und schon gar nicht zum Schreiben komme, kehrt in fast komisch-ehrlicher Verzweiflung immer wieder, seit der Ministerzeit: "Nie war ich so ungebildet wie in der Zeit, da ich für Bildung zuständig war." Und dass er gute Bücher und Aufsätze geschrieben habe, "verdanke ich ja dem Führer", der ihn politisch kaltgestellt hatte.

Man darf das alles nicht zu wörtlich nehmen, es ist auch Koketterie dabei, denn Heuss war wahrhaftig nicht ohne politischen Ehrgeiz. Doch wohltuend ist Heuss’ Distanz zum politischen Betrieb gleichwohl. Mehr noch: Für ihn ist es eine überlebensnotwendige Reserve, eine der "Rückzugslinien", ohne die "unsereins" Gefahr liefe, "im seelischen Armenhaus zu landen". Dabei ist die politische Rolle, die er gespielt hat, vor allem im Parlamentarischen Rat, gar nicht zu überschätzen. Die Briefe aus Bonn dokumentieren das, durchaus unterhaltsam – die FDP-Fraktion bilde "das berühmte Zünglein an der Waage … wir sind nett u. etwas undurchsichtig nach den verschiedenen Seiten". Heuss bringt den Namen "Bundesrepublik Deutschland" ins Spiel und trägt wesentlich zur Formulierung von Präambel und Artikel 1 bei.

Zeithistorisch und politisch fasziniert an dem Briefwechsel nicht zuletzt, dass der Leser dem Prozess beiwohnt, in dem die junge Bundesrepublik sich herausbildet, und wie dabei inzwischen selbstverständliche Grundzüge gegen längst vergessene Positionen durchgesetzt werden mussten. Der Name Bundesrepublik muss ja gegen das "Reich" errungen werden, das noch in vielen Köpfen spukt, vor allem in der nordrhein-westfälischen FDP, und ebenso gegen den Verlegenheitsnamen „Bund deutscher Länder“. Da ist Heuss dann ganz in seinem historischen Element, beim Zurechtrücken des deutschen Geschichtsbildes, das er vor dem Rückfall in Kleinstaatlichkeit und politische Romantik bewahren will.

Verwundert kann man allerdings auch darüber sein, wie langmütig Heuss mit den Folgen des "Dritten Reiches" umgeht. So massiv er in seinen Reden Stellung bezog, so kritisch äußert er sich in den Briefen, zumal zur Entnazifizierung. In Bezug auf die Auseinandersetzung mit den mentalen NS-Folgen ist er ganz Verständnis: Man dürfe nicht vergessen, "dass jetzt bald drei Jahre vorbei sind, seitdem der Krieg zu Ende" ist, weshalb Hitlers Schuld "psychologisch durch so viele neue Nöte und Ungewissheiten verdeckt" und durch die Weltpolitik "in ihrer unmittelbaren Wirkungskraft" geschwächt sei, "dass die Massen die Zusammenhänge gar nicht mehr ganz gegenwärtig hat".

Der Buchtitel "Erzieher zur Demokratie" reflektiert natürlich die Rolle, die der erste Bundespräsident für die junge Republik gespielt und in vielen seiner Reden interpretiert hat. Aber die Briefe zeigen, dass er auch seinen persönlichen Impetus trifft: nämlich den eines Mannes, der in der Weimarer Republik in seinen besten Jahren war, dann ins Abseits gedrängt wurde und nach 1945 – "nun müssen wir auf unsere alten Tage noch einmal an die Front", schreibt er im Oktober an einen Freund – zum Mitbegründer der zweiten deutschen Demokratie wird. Es ist das Verdienst des Bandes, dass er zeigt, wie das demokratische Beispiel, für das Heuss steht, Tag für Tag aus seinem Leben und Denken hervorgeht. Auch deshalb ist der von Ernst Wolfgang Becker herausgegebene und vorzüglich bearbeitete Band ein gelungener Auftakt für die "Stuttgarter Ausgabe" von Theodor Heuss.





– Theodor Heuss: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945-1949. Hrsg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker.
K.G. Saur Verlag, München 2007. 621 Seiten, 39,80 Euro.

Zur Startseite