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Jurjews Klassiker: Mit Homer gegen die Revolution

Oleg Jurjew schaut über den Main und erblickt einen Frankfurter Engel.

Wer kennt es nicht von Kindergeburtstagen – das Assoziationsspiel? Einer schreibt ein Wort auf, ein anderer findet noch eins, assoziativ mit dem vorherigen verbunden, dann der Nächste und so weiter. Wer als Erster aus „schwarz“ „weiß“ oder aus „Tiger“ „Kaffeekanne“ macht, ist der Sieger. Vor kurzem fand ich dieses Spiel im Internet wieder. Entschlösse ich mich, daran teilzunehmen, würde ich folgende Aufgabe vorschlagen: Wer gelangt am schnellsten von Homer zur Revolution von 1848? Und wäre der Champion, weil ich es in einem einzigen Schritt kann.

Dieser Schritt heißt Wassili Andrejewitsch Schukowski. Schukowski (1783–1852) ist eine der ungewöhnlichsten Figuren der russischen Literaturgeschichte: In Mittelrussland als Sohn des Gutsbesitzers Bunin und einer aus einem der zahlreichen Orientkriege mitgebrachten Türkin geboren, auf Geheiß des Gutsherrn von einem Dorflehrer formell adoptiert (fast wie in einem Roman von Henry Fielding), wuchs er in der Familie seines leiblichen Vaters auf, bekam in Moskau eine gute Bildung und wurde zu einem berühmten Lyriker und Übersetzer.

Er gilt als der Begründer der russischen Romantik und als Lehrer Puschkins, was in der russischen Zivilisation ungefähr der Rolle der Gottesmutter entspricht. Der edle Geist nahm gerne mit seiner Wegbereiterrolle vorlieb: Nach Erscheinen von Puschkins Versmärchen „Ruslan und Ludmila“ schrieb Schukowski auf sein dem jungen Genie geschenktes Porträt: Dem sieghaften Schüler vom besiegten Lehrer.

Er war „ein Mensch von Engelsmilde“, von allen geliebt und geachtet. Auch die Kaiserfamilie mochte ihn. Er wurde Erzieher der Zarenkinder, in erster Linie des „Zarewitschs“ Alexander (des künftigen Alexander II., des „Befreiers der Leibeigenen“). 1841 aus dem Hofdienst mit einer großzügigen Pension entlassen, heiratete er eine Tochter des Malers Gerhardt Wilhelm von Reutern und übersiedelte zu seiner neuen Familie, zunächst nach Düsseldorf, dann nach Frankfurt am Main, um sich der „Hauptaufgabe seines Lebens“ zu widmen – der Übersetzung der „Odyssee“. 1848–49 übersetzte er die Gesänge XIII–XXIV, die von Odysseus’ Rückkehr, von der Bestrafung der „Freier“ und von der Wiederherstellung der gottgegebenen Ordnung handeln. Es waren die Jahre der Deutschen Revolution.

Das Infragestellen und Außerkraftsetzen der gottgegebenen Ordnung ängstigte Schukowski nicht nur – es widerte ihn an. In seinen Briefen beschreibt er „das europäische Chaos“, „die Hand Satans“, „den Kampf zwischen Gut und Böse“. Die Wahlen in die Frankfurter Nationalversammlung brachten ihn außer sich: diese „Schurkenpartei der Nationalversammlungsdeputaten“ müsse „vernichtet werden“ – sowie der „hässliche Anfang der hässlichen Verfassung“.

Im Herbst 1848 verließ Schukowski das hässlich gewordene Frankfurt und ließ sich im gerade „befriedeten“ Baden nieder (der zweite badische Aufstand, die „Deutsche Republik“ von Struve, war niedergemacht worden). Hier, in den Versen, die zu den schönsten der russischen Dichtung gehören, beschreibt er, wie Odysseus mit eherner Lanze die Freier ersticht.

Kein Zweifel: In Penelopes Freiern sieht „der Engel“ die dämonischen Kräfte der Revolution, die von einem legitimen König vernichtet werden. Und wie genießt er dieses Abschlachten! Kaum jemals in der Neuzeit klangen Rache- und Gewaltfantasien so süß und musikalisch.

Ich denke oft an ihn, den alten Engel, wenn ich nachts am Mainufer spazieren gehe. Das homerische Altertum, das 19. Jahrhundert und das Jetzt existieren auf einmal parallel. Ich blicke über den Fluss: Da, auf der anderen Seite, in Sachsenhausen, im Vorgarten, sitzt er, der alte, kranke, bleiche, füllige, liebe, geliebte Dichter, und schaut grimmig zu mir, zu uns allen, auf unsere Seite des Mains, auf die leuchtenden Umrisse unserer Hochhaustürme herüber. Es ist ein befremdliches Gefühl, aber ich würde es nur ungern missen.

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