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Les Murray: Verse gegen den Tod

Es ist eines der großen Bücher über das 20. Jahrhundert. Nun wurde es, zum Abschluss des Berliner Poesiefestivals, erstmals auf die Bühne gebracht: Les Murrays Langgedicht "Fredy Neptune".

Ein Epos von rund zehntausend Versen, das seinen seefahrenden Titelhelden zwischen 1914 und 1945 an die weltweiten Katastrophenorte von Armut, Krieg und Völkermord schickt. Mit Homers „Odyssee“ und Joyces „Ulysses“ verglich man das Werk des 71-jährigen Australiers, dessen karibischer Kollege und Nobelpreisträger, Derek Walcott, meinte, „Fredy Neptune“ sei ein Erinnerungsbuch, das „Stahlsplitter schluckt und Blütenblätter spuckt“.

Am Beginn steht eine traumatische Szene: Armenische Frauen werden von türkischen Männern in einer Straße zusammengetrieben. „Los, tanzt!“, grölt der Mob. Man riecht Kerosin. Ein Funke – da „brannten sie, die Frauen, dunkle Dochte von riesigen / orangeroten Flammen“. Fredy, machtloser Zeuge dieses Verbrechens, verliert nach diesem Schock seine Fähigkeit zu empfinden: „Meine Haut ist taub“. Seine Reise über die Meere und Kontinente wird zur Suche nach diesem verlorenen Vermögen. Und zur Frage: „Wie gut ist dein Gedicht“, kann es die Frauen „wieder lebendig machen“?

Dass Murrays Poem an diesem Anspruch nicht scheiterte, schreibt sein deutscher Übersetzer, Thomas Eichhorn, beim Poesiegespräch in der Akademie der Künste vor allem dem sprachlichen Humor „Fredy Neptunes“ und seiner aberwitzigen Heldentaten zu. Um die Handlung adäquat vom australischen Englisch ins Deutsche zu bringen, begann Eichhorn, dessen Lyrikübersetzungen (von Rimbaud, Blake, Apollinaire) kürzlich mit dem Reiner-Kunze- Preis ausgezeichnet wurden, einen Faxbriefwechsel mit dem Autor, der so umfangreich geriet wie das Buch selbst.

Fast jede der tausend Strophen, berichtet Eichhorn im Publikumsgespräch, habe Detailfragen nach Wörtern und Formulierungen aufgeworfen, auch weil „Fredy“ im Dialekt australischer Farmer und Landarbeiter spricht. Murray selbst, dessen Stimme auf www.lesmurray.org zu hören ist, antwortete mit langen Geschichten, die nicht nur die Wortbedeutung klärten, sondern die erzählerische Schubkraft hinter jedem seiner Worte verdeutlichten.

Dass Murrays Langgedicht tatsächlich ein Erzählstück ist, zeigte die inszenierte Lesung, die Leopold von Verschuer gemeinsam mit drei Schauspielerkollegen auf die Bühne der Akademie der Künste am Hanseatenweg brachte. Beim Bier, am Plastikgartentisch und im Unterhemd reisten die vier Stimmen, in die sie Fredys Erzähler-Ich aufspalteten, durch dies „letzte Arbeiterpoem“ (L. Murray). Chorisch gesprochene Passagen setzten den versehrten Helden polyphon wieder zusammen. Zweieinhalb kurzweilige Stunden, bei denen mancher die Poesie vermisste und andere einen Anfang sahen, Les Murrays Roman in Versen endlich einmal selbst zu lesen. Thomas Wild

Les Murray: Fredy Neptune.
Zweisprachige Ausgabe. Ammann Verlag, Zürich 2004. 519 Seiten, 29,90 Euro.

Thomas Wild

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