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Literatur: Von Westen weht der Wind

Großer Wurf: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schließt seine „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ mit dem fünften Band ab.

Eine lange Reise erreicht den Hafen der Gegenwart. Doch in gewisser Weise ist die Gesellschaftsgeschichte von Bundesrepublik und DDR, die Hans-Ulrich Wehler vorlegt, mehr als eine Fortführung der bisher erschienenen vier Bände des Projekts, das den Bielefelder Historiker seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt. Auch der Historiker ist Zeitgenosse, und für Wehler, der die Geschichtswissenschaft durchaus als kritisches Amt handhabt, ist dieser Band nicht zuletzt sein Resümee seiner Zeit, unserer Zeit. Eine hoch engagierte Durchmusterung dessen, was hierzulande gesellschaftlich Sache ist – mit dem Rückhalt, immerhin, von 4 200 Seiten Geschichte vom Alten Reich bis zur Wiedervereinigung.

Was kommt dabei heraus? Eine erstaunliche Bestätigung der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, die um so schwerer wiegt als sie ausgefertigt wird vom Haupt der Bielefelder Historikerschule, das, so lange man denken kann, dort saß, wo die Kritiker sitzen. Allerdings fehlt diesem Befund jeder selbstzufriedene Unterton. Vielmehr rückt Wehler die Dynamik und Differenzierungskraft einer Gesellschaft ins Bild, einer Marktgesellschaft – wie er sie nennt –, die überraschend oft die Weichen richtig gestellt hat, zumal in den Jahren ihres Wiederaufbaus.

Dabei bleibt Deutschland für Wehler das Land der historischen Brüche: Kein anderer westlicher Staat habe in der Vergangenheit ein derartigen „Wirbel“ der Herrschaftsformen erlebt und mit einem ganzen Ensemble von Abweichungen den viel debattierten „Sonderweg“ eingeschlagen. Doch diesen Belastungen habe die Bundesrepublik eine Absage erteilt. Die Pointe liegt in Wehlers Erklärung: Sie habe reaktiviert, was sich – es „grenzt schon an ein kleines Wunder“ – in ihrer Geschichte als „regenerationsfähige Grundsubstanz“ erhalten habe, auch in den kritischen letzten hundert Jahren.

Denn Deutschland, so die These, mit der Wehler an eingeführten Urteilen rüttelt, war „seit jeher ein Teil des Westens“. Dass es nach 1945 so rasch in die westliche Welt zurückkehrte, sei nicht nur den westlichen Alliierten, sondern auch dem „Sockel an politischen und mentalen Traditionen zu verdanken“, der zwischen 1914 und 1945 – der, so Wehler, „Epoche des Zweiten Dreißigjährigen Krieges“ – „zwar schwer beschädigt, aber nicht vollständig zerstört worden war“. Die These entkräftet die Überzeugung vom „langen Weg nach Westen“ nicht, die fast zur Staatsraison der Bundesrepublik geworden ist. Indem sie aber der Ankunft Deutschlands im Westen ein „Wieder“ hinzufügt, wird das historische Gepäck der Deutschen neu gewichtet. Mit einem Mal sieht die deutsche Geschichte anders aus: vertrauenerweckender, ja, versöhnlicher. Doch der vor allem unter jungen Historikern und Politologen geschätzte Begriff der „Westernisation“, Kürzel für die Verwestlichung der Bundesrepublik, bekommt das Verdikt „ahistorische Fehlkonstruktion“ aufgedrückt.

Dabei zeichnet Wehler ansonsten keineswegs ein strahlendes Bild der Gesellschaft der Bundesrepublik. Ihr beeindruckender Aufstieg, Wirtschaftswunder und beispielhafte Bewältigung der Modernisierungs-Herausforderungen, gehe zusammen mit einer gravierend gewachsenen Ungleichheit: Erweiterung der Lebenschancen ja, „in unerhörter Weise“, doch Fortdauer einer massiven Unterschiedlichkeit der Schichten und Chancen. Wehlers Analyse des Bürgertum ist vitriolgetränkt.

Das gilt zumal für die Wirtschaftselite: Auf den oberen Rängen konnte man „schlechthin alle Regimeturbulenzen überleben“, und „auch die bereitwillige Kooperation mit dem nationalsozialistischen Leviathan“ schadete nichts. Nicht viel anders das Bildungsbürgertum: „Hatte man die Toten gezählt, die Emigranten endgültig vergessen, die kalte Dusche der Entnazifizierung in aller Regel überstanden, gingen die Rechtsanwälte und Ärzte, die höheren Beamten und Pfarrer, die Studienräte und Professoren wieder ihren erlernten Tätigkeiten nach.“ Wehler erkennt weder ein Ende noch eine Renaissance des Bürgertums, sondern lediglich, mit Klaus Tenfelde, einen „Formwandel“. Wie er auch keine Auflösung der Klassen konstatiert: nicht als Separierung, aber in der Prägung durch Beruf, soziale Stellung und Familie pflanzt sich ihr Umriss unübersehbar auch in der neuen pluralistischen Sozialstruktur fort.

Politik vergeht, Gesellschaft besteht? Wehler diagnostiziert die verblüffende Konstanz einmal etablierter Formen des sozialen Lebens, trotz des Wandels der Bedingungen, die sie erzeugten, trotz gewonnener sozialer Flexibilität. Sie ist ablesbar an Einkommen, Habitus und Heiraten, und auch die Bildungsreform hat, beispielsweise, daran nichts geändert. „Grandios überschätzt“, wie Wehler sie einmal nennt, habe sie die Wirkung der Herkunft eher erhöht.

Merkwürdig berührt in dieser breit angelegten, tief schürfenden deutschen Gesellschaftsgeschichte indessen Wehlers Verhältnis zur DDR. Für ihn ist sie, die doch kein ganz kleiner Teil davon war, nur der, wie er einräumt, deprimierende Kontrast zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Dafür kann man Gründe finden und Wehler findet sie, aber das eigentliche Problem liegt tiefer: Wehler kann mit der DDR offenbar nichts anfangen: Der Staat ein „Krakenstaat“, ihre Führungsschicht die „deutschen Bolschewiki“, die Herrschaft – in der Typologie Max Webers – ein Fall von „Sultanismus“, was sonst nur irgendwo im tiefsten Orient vorkommt. Auf der Strecke bleibt, ausgerechnet, die Gesellschaft: jenes Arrangement mit einem diktatorischen System, mit dem die Menschen lebten und überlebten, eingeschränkt und um viele Chancen gebracht, doch mutig genug, um den entscheidenden Schritt zur deutschen Wiedervereinigung zu tun.

Genauso kühl lässt Wehler übrigens die deutschlandpolitische Grundkonstellation, in der die Gesellschaft existiert, die er analysiert. Das Thema reduziert sich für ihn auf die – richtige – Entscheidung für die Westintegration und gegen eine „Nationalpolitik“, der gleich auch noch das Attribut „anachronistisch“ verpasst wird. Doch das Thema hat die Deutschen mindestens zwei Jahrzehnte heftig umgetrieben! Aber vielleicht zeigen sich da die Grenzen einer Gesellschaftsgeschichte.

Wehler macht es dem Leser nicht leicht, auch weil er es sich selbst nicht leicht macht. Er suggeriert keine Gesellschaft, die man als Gesamtheit erfassen kann. Er begreift sie als ein hoch komplexes Geflecht unterschiedlicher Triebkräfte, deren Mit- und Gegeneinander er mit einer furiosen Attacke von Zahlen und Fakten, Begriffsbildungen und Vergleichen zu Leibe rückt. Wie denn diese Gesellschaftsgeschichte eigentlich keine Geschichte der Gesellschaft ist, sondern eine große Geschichtsdebatte, deren Schubkraft die leidenschaftliche Suche nach dem Gewebe, den Zusammenhängen, Abhängigkeiten und Unterschieden ist, von dem wir alle ein Teil sind. Dieser letzte Band verbirgt nicht, dass er ein Beitrag zur aktuellen Diskussion dieser Gesellschaft über sich selbst ist.

Dementsprechend donnert Wehler saisongemäß gegen die 68er-Generation, an deren heroischer Verklärung „so gut wie nichts richtig“ sei, und erlegt mit seinen Statistiken den populären Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft: Deutschland sei „im schlimmsten Fall eine 85-Prozent-Gesellschaft“. Und schlägt sich auch mal diskret selbst auf die Schulter, denn zu der hervorgehobenen „strategischen Clique“, die in der Nachkriegszeit begonnen hat, die Wissenschaft und politische Publizistik zu verbinden, gehört neben den genannten Habermas, Dahrendorf und den Brüdern Mommsen auch – und gewiss nicht an letzter Stelle – Wehler selbst. Am Ende dieses Long-Distance-Rittes durch die deutsche Geschichte ist der Autor, der das eher ruhige Bielefeld zum Epizentrum der Unruhe in der historischen Zunft machte, spürbar verständnisvoller geworden.

Ist es die Genugtuung über den erfolgreichen Gang des Ganzen? Oder die Einsicht, wie sehr das Erbe vergangener Epochen in der deutschen Gesellschaft fortlebt, die „nie ganz und gar das Ergebnis der jeweiligen Moderne“ war? Auch dieser Band endet, indem er mit der Republik herb ins Gericht geht: Mit „atemberaubender Kurzsichtigkeit“ halte sie fest an ihren anachronistisch gewordenen Prioritäten; ihre Ankunft im Westen lebe sie in „satter treitschkeanischer Selbstzufriedenheit“ und lasse es an Reformbereitschaft fehlen. Ob sie der Aufgabe gewachsen sei, die Macht der Großunternehmen und des internationalen Turbokapitalismus zu zähmen, wird bezweifelt.

Jedenfalls registriert Wehler enorme Schwierigkeiten und sieht die Bundesrepublik – wem ginge es anders – keineswegs in der Verfassung, sie anzugehen. Es bleibt der Trost des Historikers: dass er weiß, welches Maß an Lernfähigkeit und Zukunftsfähigkeit sie bisher aufgebracht hat, weshalb auch der Zukunft „mit der Aussicht auf Erfolg begegnet werden kann“. Es ist eine fast zur Lebensweisheit verdünnte Hoffnung, aber es ist eine.

Hans-Ulrich Wehler, Bundesrepublik und DDR 1949-1990. Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 5, Verlag C. H. Beck, München 2008, 529 Seiten, 34,90 €.

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