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Güte in höchster Blüte. Jeff (Caleb Landry Jones) und Alice (Andrea Riseborough) in „The Kindess of Strangers“.

© John MacDougall/AFP/Per Arnesen

Lone Scherfigs „The Kindness of Strangers“: Vom Roadmovie zum Märchen

Als Eröffnungsfilm der Berlinale wurde er scharf kritisiert. Dabei geht es in „The Kindness of Strangers“ um Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Güte.

Zärtlich schmiegt sich der Arm des Mannes um die Frau, doch ein einziger Blick in ihr Gesicht verrät, dass der Schein trügt. Starr liegt Clara (Zoe Kazan) im gemeinsamen Bett, mit vor Angst geweiteten Augen. Gleich wird sie geräuschlos aufstehen, ihre beiden kleinen Kinder wecken und sich im Auto auf- und davonmachen.

Die Flucht vor dem gewalttätigen Ehemann nach New York City verkauft sie den Söhnen als Urlaub, als Abenteuer. Tatsächlich bricht sie auf in die totale Ungewissheit – in der Hoffnung, dass ihr Mann, ein Polizist, die Angehörigen in der Metropole nicht so leicht aufspüren kann.

Lone Scherfigs Spielfilm „The Kindness of Strangers“ beginnt wie ein Roadmovie und endet wie ein Märchen. Eine ungewöhnliche Verbindung; indes suggeriert schon der Titel – „Die Freundlichkeit von Fremden“ – die starke ethische Ambition.

Mit der Parteinahme für Schutzbedürftige gleich zu Anfang richtet dieser Film in der Folge den Blick auf jene, die diesen Schutz ebenso brauchen oder ihn gewähren könnten und es auch tun. Es geht um Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Güte in einer Zeit, die solche Worte in den Begrifflichkeiten der Kirchen eingehegt hat.

Mit den Kirchen sind auch diese Begriffe quasi altertümlich geworden, aus dem Alltag verschwunden. In seiner Bedürftigkeit auf das Wohlmeinen anderer angewiesen zu sein, überhaupt bedürftig zu sein, ist eine unpopuläre Vorstellung in der modernen Gesellschaft, die alle Risiken und Misserfolge radikal privatisiert.

Der Ensemblefilm entfaltet sich als soziales Panorama

Entsprechend kritisch wurde Scherfigs Werk aufgenommen, als es im Februar 2019 die Berlinale eröffnete. „Kitschiges Wohlfühlkino“, war einer der Vorwürfe. Dabei untersucht die dänische Regisseurin, von der auch das Drehbuch stammt, eigentlich das Maß an Humanität, das es seitens des Einzelnen braucht, um Hoffnung zu wecken und Perspektiven zu eröffnen.

[UCI Mercedes-Platz, auch OmU: Filmkunst 66, fsk, Hackesche Höfe, Kino in der Kulturbrauerei, Sputnik]

Inszeniert als Ensemblefilm entfaltet sich das soziale Panorama in der Überschneidung von Schicksalen. Und so begegnen Clara und ihren Kindern im winterlichen New York eine Reihe von Menschen, die sich selbst in der Krise befinden, aber über sich hinauswachsen und Beistand erfahren.

In loser Reihenfolge treten auf: ein ungeschickter junger Mann (Caleb Landry Jones), der bisher jeden Job und nun auch seine Wohnung verloren hat; ein Anwalt (Jay Baruchel) voller Schuldgefühle; und Timofey (Bill Nighy), guter Geist eines nicht besonders gut laufenden Restaurants, dem der Ex-Häftling Marc (Tahar Rahim) bald zum Erfolg verhilft.

Vorweihnachtliche Erlösung

Gewiss sind die existenziellen Lasten, die der Film bündelt, nicht wenige, und nicht allen Figuren wird dieselbe Aufmerksamkeit zuteil. In melodramatischer Hinsicht mag Clara die Zentralfigur sein, doch die Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough) ist die heimliche Heldin.

Sie reibt sich nicht nur bei ihrer Arbeit in der Notaufnahme einer Klinik auf, sondern hilft in ihrer Freizeit auch in einer Suppenküche und leitet dazu noch eine Selbsthilfegruppe von Menschen, die Vergebung suchen. Alice ist die Heiligenfigur dieses Werks. Ihr sind eine Müdigkeit und Einsamkeit zu eigen, die weit über den physischen Zustand in die Transzendenz hinausweisen.

Quasi metaphorisch kreuzen sich die Blicke und Wege der Beteiligten an tradierten Orten der Fürsorge, im Restaurant, dem Krankenhaus, in dem Alice arbeitet, und den von einer Kirche zur Verfügung gestellten Räumen der Vergebungsgruppe. Nach der Vergebung folgt gemeinhin die Erlösung – wenigstens für ein Publikum, das in der Vorweihnachtszeit an sie glauben will.

Anke Westphal

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