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Blick in einen Raum der Ausstellung „Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch“ vom Buddenbrookhaus im St. Annen Museum.

© Lucia Bartl

Lübecker Ausstellungen umkreisen Thomas Manns „Zauberberg“: Krähen im Sanatorium

Vor 150 Jahren kam der Schriftsteller Thomas Mann in Lübeck zur Welt. Zum Jubiläum spürt das St. Annen Museumsquartier in seiner Heimatstadt den Motiven des berühmten Romans „Der Zauberberg“ in Vergangenheit und Gegenwart nach.

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Das Haus hat Fieber. Sein Zustand äußert sich in einem leisen, latenten Fiepen, begleitet wird es von einem Licht, wie es früher Höhensonnen für den Hausgebrauch abstrahlten: hell, bläulich und einen gesunden Teint versprechend.

In der Ausstellung kann von gesund keine Rede sein. Hier isoliert sich Hans Castorp von der Wirklichkeit und erkundet den Kosmos seiner schwindsüchtigen Umgebung, die zum Sinnbild der eigenen Verfassung wird. Im Lungensanatorium, in dem er ursprünglich seinen kranken Vetter besucht, um am Ende sieben Jahre zu bleiben, leidet er subtil an sich, seinen Begehren, der Zeit.

Das Lübecker Buddenbrookhaus interpretiert Thomas Manns berühmten Roman im nahen St. Annen Museum in seiner Sonderschau „Der Zauberberg: Fiebertraum & Höhenrausch“ und erzählt von einem frühen, äthergetränkten 20. Jahrhundert, das in einem furchtbaren Krieg mündet.

1000 Seiten Weltliteratur als illustrierende Ausstellung mit medizinischen Apparaturen, erotischen Skulpturen und sakralen Objekten aus den Beständen des Museums mit seiner mittelalterlichen Sammlung; verteilt auf sieben Räume, die Castorps träumerische Jahre in den Schweizer Alpen rasant abbilden. Kann das gutgehen?

Liest man die Einträge im Gästebuch, dann haben einige Besucher den Ort tief enttäuscht verlassen. Zu oberflächlich, lautet ihr Urteil, es resultiert aus der Erwartung, sie könnten „ihren“ Thomas Mann auf den 200 Quadratmetern Ausstellungsfläche wiederfinden.

Doch die Kuratorinnen, Barbara Eschenburg und Buddenbrookhaus-Direktorin Caren Heuer, wagen ein Experiment: Sie destillieren und dampfen Manns Meisterwerk radikal ein, um es für ein breites Publikum mit Bezügen zur Gegenwart lesbar zu machen.

Weltflüchtige Nabelschau

Wie eine Epoche in der kollektiven Missachtung der Realitäten in einen Krieg rauscht. Wie sich Moderne, Todessehnsucht und zahllose Ressentiments zu einer tödlichen Mischung verbinden, während „Zauberberg“-Protagonist Hans Castorp weltflüchtige Nabelschau betreibt, steht im Zentrum dieser immersiven Schau.

Sie zieht einen in das aseptische Licht und das Summen im ersten Raum, das nach gefährlicher elektrischer Überhitzung klingt. Hier präsentiert sich die Medizin um 1920, erkunden frühe Röntgenbilder das Innere des Kranken und sollen Taschenspucknäpfe die Erreger der Tuberkulose in isolierenden Gefäßen bannen.

Der Trend zum Okkulten als Gegenbewegung zur physischen Durchleuchtung ist ebenso Thema wie Castorps Affäre mit Madame Chauchat oder seine Gespräche mit anderen Patienten über Politik, Psyche und das eigene Ende.

Inmitten einer kränkelnden Gesellschaft, die im Sanatorium umsorgt und zugleich auf vielfältige Art diszipliniert wird, relativiert sich jedoch vor allem die Zeit. Sie ist immer wieder Thema und springt über auf die benachbarte St. Annen Kunsthalle, wo die britische Künstlerin Heather Phillipson ihre Ausstellung „Extra Time“ inszeniert. Mit Blick auf den „Zauberberg“ wie auf die Stadt Lübeck, wo Manns Großeltern lebten.

Ein paralleles Universum

Phillipson, Jahrgang 1978 und vor drei Jahren für den wichtigen Turner Price nominiert, vernetzt sich stets mit der Umgebung, in der ihre Kunstwerke entstehen. In Lübeck streifte sie umher, machte sich mit Eigenheiten vertraut – und verfiel den vielen Krähen, die hier frühmorgens Spiel- und Sportplätze bevölkern.

Installationsansicht „Extra Time - Heather Phillipson“ in der Kunsthalle St. Annen.

© Fotoagentur 54°/Felix König

In ihrer Ausstellung sind sie auf Videos zu sehen, als übergroße Vögel aus Pappmaché und Draht werden sie zu Agenten eines parallelen Universums. Die Skulpturen scheinen Fußball mit Orangen zu spielen, demonstrieren mit Transparenten gegen Umweltzerstörung oder fahren Seilbahn im obersten Stockwerk der Kunsthalle, das die Künstlerin zur Gebirgsspitze erklärt.

Phillipson schafft diverse Tableaus, die man durchwandert, um Teil der manchmal komischen und manchmal unheimlichen Versammlungen zu werden, zu denen sich die Krähen zusammenrotten.

„Extra Time“, der englische Begriff für Nachspielzeit, symbolisiert das Besondere dieses Moments: Es handelt sich um Extra-Minuten. Um eine Ausdehnung von Zeit und Raum, in der ein Match zugleich in seine entscheidende Situation kommt. Heather Phillipson setzt dies mit Castorps surrealer Auszeit im Sanatorium gleich, ihre bildgewaltigen Installationen könnten ebenso jenen Fieberträumen entspringen, die den Protagonisten nebenan heimsuchen.

Krähen verkörpern in der Mythologie so ziemlich alles – sie begleiteten Hexen, galten als Zerstörer wie als Erneuer und Vorboten gesellschaftlicher Umbrüche. Was man in ihnen liest, hält die Künstlerin bewusst offen. Aber dass etwas im Gang ist, dass die Vögel den Zauberberg nicht ohne Grund bevölkern, daran lässt Phillipson keinen Zweifel. 

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