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Kultur: Macht aus Gewohnheit

40 Jahre lang hat Jacques Chirac Politik gemacht. Minister, Bürgermeister, Premier, Präsident – doch seine Bilanz fällt mager aus, und die Franzosen sind seiner überdrüssig. Rückblick auf eine Karriere

Stand:

Chirac, der sonst so Kühle, Chirac, der Beherrschte, wurde ungewohnt gefühlvoll. Er stand an einem Pult, hinter ihm die Trikolore und beschwor seine „Liebe zu Frankreich“ und gleich sechsmal den „Stolz“, mit dem er auf dieses Land blickt. „Ich liebe Frankreich leidenschaftlich“, sagte er. „Ich habe mein ganzes Herz, meine ganze Energie, meine ganze Kraft in seinen Dienst gestellt. Frankreich dienen, dem Frieden dienen, das ist der Kampf meines ganzen Lebens gewesen.“ Dann sagte er: „Ich bitte Sie nicht um Ihre Stimmen für ein neues Mandat.“

Sonntagabend, eine Fernsehansprache. Eine politische Karriere endet. Jacques Chirac ist 74 Jahre alt. Schon seit einiger Zeit hatte für ihn wohl festgestanden, dass ihm nach zwölf Jahren an der Spitze nichts anderes als der Abschied bleiben würde. Zwölf Jahre, das ist mehr als de Gaulle vergönnt, und weniger als Mitterrand beschieden war. Zwar hatte er voriges Jahr noch mit dem Gedanken einer Wiederwahl geliebäugelt. Doch die erschien immer unrealistischer. Vier von fünf Franzosen wollten ihn nicht mehr. Sie sind seiner überdrüssig. Spätestens seit dem verlorenen Referendum über die Europäische Verfassung 2005 gilt Chirac als politisch erledigt. Dass er entgegen aller gaullistischer Logik damals nicht zurücktrat, sagt viel über einen Politiker, der im Zweifelsfall seine persönlichen Interessen über die der Nation stellte. Doch bis zuletzt vermochte es Chirac, über seine Entscheidung einen Schleier künstlicher Spannung zu legen.

Er habe es möglichst lange vermeiden wollen, als künftiger Ex-Präsident zu erscheinen, als „lahme Ente“, dessen Einfluss schwindet und auf den niemand mehr hört, hat einer seiner Berater erklärt. Noch wichtiger aber ist es für Chirac, die angemessene Form für die Verkündung seines Verzichts zu finden. De Gaulle hatte nach einem verlorenen Referendum schlicht seinen Rücktritt erklärt. Georges Pompidou war im Amt verstorben. Valéry Giscard d’Estaing hatte den Franzosen nach seiner Abschiedsrede beleidigt den Rücken zugedreht. Der schon von seiner tödlichen Krebserkrankung gezeichnete Mitterrand hatte 1995 in seiner letzten Rede an die Franzosen versichert: „Ich glaube an die Kraft des Geistes, und ich werde Sie nicht verlassen.“ So weit geht Chirac nicht. Aber in der Rede, an der er während des ganzen Wochenendes gefeilt hat, verspricht er, er werde Frankreich weiter dienen, „auf andere Weise.

Was er meint, sagt er nicht. Vielleicht wird er Vorsitzender einer großen Umweltstiftung? Schon schwirren die ersten Gerüchte. Kürzer treten, leiser treten, das kann dieser Mann nur schlecht. Macht aus Gewohnheit – schwer zu überwinden.

Vier Jahrzehnte hat Chirac für die Politik und in der Politik gelebt. „Die Regierungen kamen und gingen, ich wohnte stets weiter mit den Möbeln der Republik“, hat er mal gesagt. Als der damalige Premierminister Pompidou den Absolventen der Eliteschulen Institut de Sciences Politiques und Ecole Nationale d’Aministration in seinen Beraterstab holte, regierte noch Richard Nixon im Weißen Haus und Leonid Breschnew im Kreml. Schon damals brannte er vor Ehrgeiz und Machthunger. Einmal soll ihn Pompidou mit den Worten „Chirac, Ihr Platz ist auf dem Klappstuhl“ zurechtgewiesen haben. Andererseits konnte er sich auf den Tatendurst seines „jungen Wolfs“ verlassen. „Wenn ich ihm eine Schaufel gebe und beauftrage, einen Tunnel zu einem Ministerium zu graben, wird er ohne zu fragen an die Arbeit gehen und sie am nächsten Morgen vollendet haben“, soll er mal gesagt haben.

Auf Pompidous Anraten hat er sich früh um ein lokales politisches Mandat im westfranzösischen Departement Corrèze bemüht, aus dem die Familie seines Vaters, eines Bankiers, stammt. Doch Chirac ist in Paris aufgewachsen. Dort legt er auch die Stationen seiner politischen Karriere zurück, die ihn bis hinauf in den Elysee-Palast führt. Er ist Staatssekretär im Finanzministerium, wird Landwirtschaftsminister, wechselt ins Innenministerium und wird von Giscard d’Estaing zum Premierminister berufen. Mit der Erklärung, dass ihm die Mittel vorenthalten würden, seine Politik zu verwirklichen, gibt er seinen Auftrag an den Präsidenten zurück. Nach der Ausbootung führender Altgaullisten gründet er die auf seine Interessen zugeschnittene nachgaullistische Sammlungsbewegung RPR. Er setzt sich bei der Wahl zum Pariser Bürgermeister durch, wo er, der den Luxus schon immer geliebt hat, auf Kosten der Bürger feudal lebt. Die Schmiergeldaffären aus jener Zeit sind übrigens noch nicht ausgestanden. Sie dürften die Justiz nach dem Ende von Chiracs Amtszeit wieder interessieren. Sein Kronprinz Alain Juppé wurde deswegen schon rechtskräftig verurteilt.

Jacques baut sein Rathaus zur Bastion aus, von der aus er seinen Feldzug zur Eroberung des Elysee-Palastes antritt. 1981 scheitert er jedoch im ersten Wahlgang. 1986 übernimmt er unter Mitterrand erneut das Amt des Premierministers. 1988 unterliegt er gegen Mitterrand im Präsidentenwahlkampf. 1995 endlich wird er Präsident, musste dann aber nach einem missglückten Poker um vorzeitige Neuwahlen die Macht mit dem sozialistischen Premier Lionel Jospin teilen. 2002 wird er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – gegen den Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen, der den von seinen Wählern im Stich gelassenen Jospin aus der ersten Wahlrunde warf, geben ihm diesmal 82 Prozent der Wähler ihre Stimme.

Gewählt als „das kleinere Übel“ – es ist ein Betriebsunfall der Geschichte, der für Chirac zu einem ungeahnten Glücksfall wird. Doch mit einem solchen fast sowjetisch anmutenden Wahlergebnis und der Fülle der Macht, über die seine Partei in der Nationalversammlung, im Senat, in den Regionalversammlungen und in anderen staatlichen Institutionen verfügte, hat Chirac nicht viel anfangen können. Das Bedürfnis der Franzosen nach Erneuerung, nach Reformen war fast mit Händen zu greifen – doch Chirac regierte das Land, als sei nichts gewesen. Seine Bilanz sei „quasi Null“, urteilt der konservative Wirtschaftswissenschaftler Jacques Marseille.

469 Gesetze wurden während seiner zweiten Amtszeit verabschiedet, doch keine großen Reformen. Die Sanierung der Rentenversicherung erfolgte nur halbherzig. Das Gesundheitssystem krankt an chronischen Defiziten. Die Justizreform blieb auf halbem Weg liegen. Die versprochene Einführung häufiger Referenden ist vergessen. Die Liberalisierung des Arbeitsmarkts ist vergessen. Die Arbeitslosigkeit ist zwar gesunken, aber das nur auf Grund statistischer Tricks. Das Außenhandelsdefizit ist wieder auf Rekordhöhe. Das Programm zur Senkung der Einkommensteuer wurde abgeblasen. Und die Staatsschulden wachsen weiter. Von 657 Milliarden Euro 1995 haben sie sich auf 1200 Milliarden praktisch verdoppelt. Verschuldet, verkrustet und unbeweglich sieht der Publizist Nicolas Baverez in der konservativen Zeitschrift „Le Point“ das heutige Frankreich. „Das einzige, das von den zwölf Jahren Chiracs bleiben wird, ist die brutale Beschleunigung seines Niedergangs und seine Marginalisierung auf der internationalen Szene“, schreibt er.

Eine Erklärung für den politischen Immobilismus sehen Chiracs Biographen in dem Erlebnis des Mai 1968. Georges Pompidou, einer seiner Vorgänger, hatte den jungen Staatssekretär damals in die Verhandlungen mit den Gewerkschaften über ein Ende des Streiks geschickt, der Frankreich seit dem Ausbruch der Studentenrevolte lähmte. In Frankreich müsse man sich hüten, den schlafenden Löwen zu wecken, hatte er später einmal gesagt. Der Löwe war das Volk, das aus für ihn unerfindlichen Gründen immer wieder brüllte und aufbegehrte. Chirac, konfliktscheu? Kaum denkbar, und doch wich er jedes Mal zurück, wenn es Schwierigkeiten gab. 1986, als die Studenten gegen eine Universitätsreform protestierten. 1995, als die Beschäftigten der Eisenbahn und der Pariser Metro wochenlang den Verkehr wegen der Rentenreform lahm legten. Und 2006, als die Schüler gegen eine Beschäftigungsreform der Regierung Villepin auf die Straße gingen. „Frankreich ist unregierbar“, soll er mal gesagt haben. „Das Land will weder uns noch die von uns vorgeschlagenen Reformen. Ich habe daraus die Konsequenzen gezogen.“

Den „soziale Riss“, der Frankreich spaltet, wollte Chirac überwinden; 1995 hat er das versprochen. Doch der Riss besteht weiter und ist sogar, wie der Aufruhr der Einwandererjugend im Herbst 2005 in den Vorstädten zeigte, noch größer geworden. Viele, vor allem linke Wähler, die Chirac 2002 mit zusammengebissenen Zähnen ihre Stimme gaben, um Le Pen zu verhindern, sind heute enttäuscht. Chirac hat die Franzosen nicht zusammengeführt.

„Die Franzosen lieben meinen Mann eben nicht“, hat seine adelige Gattin Bernadette einmal geseufzt.

Dabei ist Chirac durchaus nicht ohne Verdienste: Einer seiner größten bleibt die Anerkennung der Schuld Frankreichs für die Judenverfolgungen des Vichy-Regimes. Kurz nach Beginn seiner ersten Amtszeit 1995 machte Chirac Schluss mit dieser Lebenslüge des Nachkriegsfrankreichs. Positiv angerechnet wird ihm heute von allen Seiten auch sein Widerstand gegen den Irak-Krieg.

Ein großer Europäer hingegen ist Chirac nie gewesen. Zwischen innenpolitischen Problemen und europäischen Ambitionen hat er stets hin und hergeschwankt. Zum Schluss hat er sich dann zwar immer zu dem Notwendigen bekannt. Doch das ging nie ohne Streit mit den Partnern um französische Interessen ab, manchmal auch nicht ohne Fußtritte unterm Tisch, wie sie Bundeskanzler Helmut Kohl beim Ringen um die Berufung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank oder sein Nachfolger Gerhard Schröder beim Zank um die Agrarfinanzierung hinnehmen mussten. Das hinderte ihn freilich nicht, am nächsten Tag Kohls Wiederwahl zu wünschen und Schröder 2004 bei den Landungsfeiern in der Normandie „nicht als Freund, sondern als Bruder der Franzosen“ zu begrüßen.

Immer noch fällt es auch langjährigen Beobachtern schwer zu sagen, wer Chirac eigentlich ist. Sicher ist: Auf seinem Weg nach oben hat er viele Kehrtwenden vollzogen, manche Versprechen gebrochen, nicht wenige Freunde verraten und Gegner brutal aus dem Weg geräumt. Als Student sammelte er im Pariser Quartier Latin Unterschriften für den von den Kommunisten inspirierten Friedensappell von Stockholm. Er sammelte Geld für Nelson Mandelas ANC. Andererseits kämpfte er als Soldat gegen die Unabhängigkeit Algeriens. Später verurteilte er die Beschönigung des Kolonialismus. Er war Gaullist, versuchte Thatchers Liberalismus zu praktizieren, bekehrte sich zu einem gemäßigten Konservatismus, wurde zuletzt eiserner Umweltschützer, blieb jedoch Befürworter der Atomkraft, und ist doch eigentlich nur geblieben, der er immer war: ein Mann, der der politischen Macht anhängt.

Seine Amtszeit endet am 16. Mai um Mitternacht.

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