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 Daniel Hoevels

© Arno Declair/Deutsches Theater

"Marat/Sade" am Deutschen Theater: Rocky-Horror-Revoluzzer-Show

Peter Weiss als Puppenspiel: Stefan Pucher inszeniert den modernen Klassiker „Marat/Sade“ am Deutschen Theater Berlin. Eine krachlederne Show mit einem Ensemble in Höchstform.

„Illusionen, Sensationen, Original Gespenster- und Geistererscheinungen“ steht auf den Pappmaché-Kulissen, die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes ins Deutsche Theater gebaut hat. Die Werbung verspricht ausnahmsweise nicht zu viel. Tatsächlich hampeln hier schon bald der Marquis de Sade, Jean Paul Marat und weitere welthistorische Zombies in herzallerliebsten Retro-Kostümen übers Szenario. Mit schlaffen, kurzen Kasperlepuppenbeinchen: Die Schauspieler turnen zu großen Teilen auf den Knien durch Stefan-Puchers Peter-Weiss-Inszenierung „Marat/Sade“ und schlenkern dabei dürre Fake-Gliedmaßen hin und her, die bäuchlings an ihnen herunterbaumeln.

Die Französische Revolution als extrakurzbeiniger Grand-Guignol-Jux, bei dem sich jeder Mitwirkende maximal wirkungsbeflissen an die Rampe schmeißt: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“, wie Weiss’ 1964 am Berliner Schiller-Theater uraufgeführtes Stück vollständig heißt, spielt in einer Nervenheilanstalt. Deren Insassen reenacten nicht nur den spektakulären Mord an Marat durch Charlotte Corday. Sondern de Sade, der dabei das Regiezepter schwingt und am DT in Gestalt von Felix Goeser seine Akteure gern mal testosteronüberschüssig zusammenbrüllt, nutzt die Gelegenheit auch zu weltanschaulichen Disputen.

Was ist eine handfeste Revolution ohne schmissige Moderation?

Dabei propagiert Marat seinen revolutionären Standpunkt, blutrünstige Gewalt inklusive, aufgrund einer juckenden Hautkrankheit (und zur Steigerung des Unterhaltungsquotienten) abendfüllend aus der Badewanne heraus. Daniel Hoevels lässt ihn – mit Kopfbinde und großformatig aufgepinseltem Brusthautekzem – angemessen schmallippig und in einer interessanten Mischung aus Verkniffenheit und Entrückung dreinschauen, während er mit seinem Gegenspieler de Sade debattiert. Der ist zwar nicht minder unzufrieden mit dem Status quo, kontert aber jedweden revolutionären Sozialgedanken mit der wirkmächtigen Individualismus-Keule: Ein Konflikt, über den man heute tatsächlich wieder ziemlich komplex nachdenken kann und den das DT kürzlich schon in Tom Kühnels und Jürgen Kuttners „Fatzer“-Inszenierung am Wickel hatte.

Pucher geht es nun freilich nicht darum, die Positionen philosophisch auszuziselieren in seiner krachledernen Revoluzzer-Puppenshow. Vielmehr wirft Anita Vulesica – als Anstaltsdirektorin Coulmier und „Ausruferin“ des Abends in Höchstform – erst mal die durchaus zeitgeistige Frage in den Grand-Guignol-Raum, was eine handfeste Revolution ohne schmissige Moderation sei. Um sodann als rampensäuische Entertainment-Egomanin die nicht minder rampensäuischen Antagonisten des Abends zu dirigieren. Da lassen Marat und de Sade die muskelschwachen Beinchen um die Wette vom Wannenrand baumeln, während sich die formidable Corday der Katrin Wichmann und ihr Kompagnon Duperret (Bernd Moss) mit sozialromantischem Kuschelpop ans Publikum heranschmeißen oder Michael Goldberg als Marat-Lebensgefährtin Simonne Evrard extrasauertöpfisch an der Wanne auf und ab trippelt. Und zu alledem legen sich Chikara Aoshima und Michael Mühlhaus livemusikalisch ins Zeug.

Das Volk aus der Mitte der Hipster-Gesellschaft

Als serviceorientierte Unterhaltungsfachkraft auf der Höhe der Zeit versäumt es die „Ausruferin“ natürlich nicht, auch die Zuschauer zum lockeren Mitplaudern, Mitliken und Mithaten rund ums Revolutionsthema einzuladen: „Diskutieren Sie mit uns draußen im Foyer oder schreiben Sie uns auf theater.de“, ruft Vulesica mit dem Charme einer Urlaubsclub-Animateurin ins Parkett. Alles putzige Schenkelklopfer-Show also? Nicht ganz. Schließlich gibt es noch einen weiteren Protagonisten bei Weiss – und überhaupt: das Volk. „Marat was ist aus unserer Revolution geworden / Marat wir woll'n nicht mehr warten bis morgen / Marat wir sind immer noch arme Leute / und die versprochenen Änderungen wollen wir heute“, skandiert selbiges im Stück wiederholt.

Der Regisseur Volker Lösch hatte in seiner zum Berliner Theatertreffen eingeladenen „Marat/Sade“-Inszenierung von 2008 bei dieser Gelegenheit Care-Pakete vom Schnürboden niederprasseln lassen. Und zwar in einen Aldi-Lidl-Discount-Bühnenraum hinein, in dem sich dann ein ärmlich gekleideter, von tatsächlichen Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern performter Chor auf den warmen Naturalienregen stürzte.

Stefan Pucher hat nun acht Jahre später eine komplexere Idee. Bei ihm sind es nicht die viel zitierten „Abgehängten“, die mit trotziger Vollmundigkeit „Veränderungen“ einfordern. Sondern androgyne Anzugträger-Horrorclowns mit wohlgeschnittenem Szene-Pony und blutrot überschminkten Mündern: Personal aus der Mitte der Hipster-Gesellschaft.

Die Suche nach einem Chef in Krisenzeiten

Während sich die Kollegen Revolutionsführer und -antagonisten mit ihren Ismen kurzbeinig im Grand-Guignol abhampeln, schlägt Puchers Chor sich nicht um Discounter-Brote, sondern tritt abendfüllend langbeinig und gut geschminkt an die Rampe, um seinen Anspruchskatalog zu skandieren. Gern postfaktisch, aber in überdurchschnittlicher handwerklicher Präzision. Am Schluss seines gut gestrafften Anderthalbstünders lässt Pucher dieses knappe „Volks“-Dutzend Elitenbashing nach Marat ins Publikum deklamieren – mit Zornesfalte auf der makellosen Stirn: „Ihr Lügner, immer werdet ihr vom Volk als von einer rohen und formlosen Masse sprechen, weil ihr getrennt von ihm lebt.“ Und: „Wir brauchen endlich einen wahren Abgeordneten des Volkes, einen Chef in der Zeit der Krise.“

Ziemlich unlustiges Finale für eine lustige Rocky-Horror-Revoluzzer-Show!

Weitere Vorstellungen am 3., 10. und 21. Dezember

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