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Ein Mann verschwindet. Der Polarforscher Lawrence Oates macht sich aus seinem Zelt in den Schneesturm am Südpol auf (1912).

© mauritius images / De Luan / Ala

Meditation über das Sterben: Was wir nie besessen haben

„What light there is“: Der schottische Schriftsteller John Burnside entwirft in seinem neuen Essay eine Ars moriendi.

Von Gregor Dotzauer

Der Tod, stellte er sich vor, nahe in vielerlei Gestalt. Als Schatten aus dem Wald, als heranschnürender Fuchs oder als Zaunkönig, der durchs Fenster flattert. Vielleicht kündige er sich auch im überraschenden Besuch eines seit Jahrzehnten aus den Augen verlorenen Freundes oder einer abgelegten Geliebten an.

John Burnside selbst gestand, er neige, wenn es denn einmal soweit sei, eher dazu, möglichst auf alle Boten zu verzichten und unbemerkt an einen kleinen See aufzubrechen, wo er, allenfalls in Gesellschaft eines Moorhuhns im Schilf, in die Stille der Morgenröte hinaustreten werde und keine pathetische Stimme zu gewärtigen habe, die ihm nachruft: „geh ins Licht / Edelgeborener / geh ins Licht“.

So steht es in der „Kunst des Sterbens“, dem abschließenden Gedicht seines Zyklus „Versuch über das Licht“, wobei die Aufforderung, ins Licht zu gehen, ein Echo des Tibetischen Totenbuchs ist. Eine Passage daraus bildet das Motto des Zyklus, und auch im Rest des Bandes „The Hunt in the Forest“ (2009) setzt sich Burnside auf Schritt und Tritt mit dem Tod auseinander, sei es in einem Epitaph auf Aldous Huxley unter dem Titel „Ars moriendi“ oder im Eingangszitat aus Simone Weils Betrachtungen über „Schwerkraft und Gnade“: „Die Wahrheit zu lieben bedeutet, die Leere zu ertragen und dann den Tod zu akzeptieren. Die Wahrheit steht auf der Seite des Todes.“

Leichtigkeit und Beweglichkeit

Der Essay „What light there is“, das jüngste, in dieser Form zunächst nur auf Deutsch erscheinende Buch des schottischen Dichters und Erzählers. Mit seiner Todesbesessenheit knüpft es an einen vertrauten Zug in Burnsides Werk an, und tut das doch mit einer Leichtigkeit und sprachlichen Beweglichkeit, auf die sich nur Wenige verstehen.

Der Tod ist kein freundlicher Zeitgenosse, er taugt aber auch nicht zum Schreckgespenst. Er gehört zu einem Naturgeschehen, über dessen Unvermeidlichkeit sich der Mensch mit Jenseitströstungen hinwegzusetzen versucht.

[John Burnside: What light there is. Über die Schönheit des Moments. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Haymon, Innsbruck/Wien 2020. 176 S., 19,90 €.]

Als Prosameditation sieht sich der Essay ausdrücklich in der Tradition jener spätmittelalterlichen Traktate, die, nicht nur im Angesicht der Pest, eine Einübung in die Ars moriendi lehrten - nur eben ohne deren falsche Erbaulichkeit. Und doch fehlt Burnsides Überlegungen zum ersten Mal etwas von dem unbändigen Lebenswillen, der immer den Gegenpol zur dunklen Drift seines Erzählens bildete. Er gipfelte in der selbstzerstörerischen Maßlosigkeit von Sex, Drogen und Alkohol mit psychotischen Folgen, die er, beginnend mit dem Welterfolg "Lügen über meinen Vater", in einer autobiografischen Trilogie verarbeitete. Die gewöhnliche, der Gesundheit zuträgliche Ars vivendi, hat hier allerdings deutlich gelitten.

Weisheit der Kunst

„What light there is“ ist das Buch eines 65-jährigen Mannes, der plötzlich feststellen muss, dass er sich in dem schleichenden Prozess, den das Altern mit sich bringt, auf der anderen Seite wiederfindet. Rat sucht Burnside vor allem in den Künsten. Er entdeckt ihn in den Versen von Walt Whitman, Matthew Arnold und Mark Strand, in Jean Sibelius’ fünfter Symphonie und in Verdis „Rigoletto“, aber auch in der mörderischen Folkballade „The Knoxville Girl“.

Er beschäftigt sich mit Filmen von Sean Penn, Andy Warhol und Ken Loach, bewundert die eindringlichen Porträts, die der Fotograf Richard Avedon von seinem greisen Vater Jacob machte, und er versenkt sich in das „Elysium“ der niederländischen Malerei, insbesondere die Genreszenen der von Hendrick Avercamp oder Pieter Brueghel, dessen „Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle“ sein Lieblingsgemälde ist.

Von diesem Bild des Friedens ist es für jemanden wie Burnside nur ein kleiner Schritt zu jener radikalen Geste, mit der Lawrence Oates 1912 in Erwartung des sicheren Todes auf dem Rückweg vom Südpol sein Zelt verließ und, wie Captain Scott in seinem Tagebuch notierte, und erklärte: „Ich will einmal hinausgehen und bleibe vielleicht eine Weile draußen“. Es ist die Eissturmvariante des Phantasmas von Burnsides eigenem Traum vom Tod am See.

In vier großen Kapiteln kontrastiert das Buch erst Erde und Himmel, dann Sterbliche und Göttliche. Ein Versuch, dem assoziativ Mäandernden, doch motivisch stark Verbundenen, ein konstruktives Gerüst zu geben. Das Ärgerliche an diesem scharfsinnigen Essay, von dem Teile schon unausgewiesen in der „London Review of Books“ erschienen, ist nur, dass ihn der Verlag als Hommage an die Schönheit des Moments verkauft.

Ein Traktat, falsch verkauft

Schon die allzu liebliche Ausstattung, das in den Trennblättern zwischen den Kapiteln wiederkehrende Hellrot des Pappeinbands und die altmodisch-kitschige Schreibschrift auf dem Titel, täuschen über den wahren Charakter des Buches hinweg. Es gibt zwar die Feier des Zarten und allzu Vergänglichen, aber die daran geknüpften Impressionen bilden vor allem den Schaum, der sich auf einem alles wegreißenden Strom kräuselt.

„Was wir nur flüchtig sehen“, schreibt Burnside, „haftet in der Erinnerung; nicht als etwas, das wir verloren, sondern als etwas, das wir nie ganz besessen haben, wodurch es einen größeren Zauber entwickelt als alles, was zu behalten uns gestattet ist.“ Er erinnert sich, wie er diese Magie ausgerechnet während einer langen Autofahrt durch eine gestaltlose Landschaft im amerikanischen Midwest spürte, einem auf Dauer gestellten Augenblick, wie ihn das normale Lebens sonst nicht bereithält: „Ich will kein Lokalkolorit; ich will nichts Pittoreskes; und unter keinen Umständen möchte ich etwas erkennbar Historisches. Ich will das Hier und Jetzt, ich will die flüchtige Vergänglichkeit von Himmel und Jahreszeit, die subtile Schönheit des Unscheinbaren.“

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In einem der unheimlichsten Momente des Essays löst sich dieses Hier und Jetzt sogar von der Wirklichkeit. Während einer Zugfahrt durch Virginia ereilt Burnside eine regelrechte Anwandlung von Depersonalisierung. Aus dem Waggon heraus blickt er auf eine neonerleuchtete Hauptstraße, in der ein Ladenbesitzer aus seinem Geschäft tritt und wie jeden Abend die Tür zusperrt. Burnside kann das Gesicht des Mannes nicht sehen, doch er weiß, dass er selbst hier sein Tagwerk beendet.

„Ich spürte nicht allein das Schloss in meiner Hand klicken, als er den Schlüssel umdrehte, einen Augenblick lang fühlte ich auch seine Vorfreude, das Wissen bald daheim zu sein, sich ein Bier einzuschenken.“ Niemand sollte sagen, dass das nicht ein entscheidender Teil von Burnsides Leben war.

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