zum Hauptinhalt
Erzähler mit einem Bein in der Literaturwissenschaft. Andreas Martin Widmann lehrt am Berliner Bard College.

© Simone Schröder

„Messias“ von Andreas Martin Widmann: Memos vom Zwischendeck

Agentur-Arbeitswelten und Ich-Entfremdung: Andreas Martin Widmann blickt in seinem vielstimmigen Gesellschaftsroman „Messias“ auf die Entgleisung der Gegenwart.

Im Terminal des Londoner Flughafens betrachtet sich Paul Helmer die Reisenden, mit denen er gleich ins Flugzeug steigen wird. Economy Class, mehr ist für ihn nicht drin. Trotzdem schaut er mit Verachtung auf die Menschen, die, ihre Bordkarten zwischen den Zähnen, hektisch in Rucksäcken nach ihren Ausweisen suchen oder in ihren Laptoptaschen kramen. Ob das die Zielgruppe sei, fragt Paul sich, „die Menschen, die wir erreichen wollen“, ohne die Paradoxie der Situation zu bemerken: Dass er selbst zu der Zielgruppe gehört, der er sich entfremdet fühlt. Und dass damit die Außenperspektive eine Illusion ist.

Der Sog und die Irritation, die von Andreas Martin Widmanns neuem Roman ausgehen, bestehen unter anderem darin, dass sämtliche Möglichkeitsräume zugemauert sind. Die Existenz der Figuren ist alternativlos. Wer nach Gegenwelten sucht, und das tun sie alle, landet früher oder später wieder am Ausgangspunkt. Widmanns 2012 erschienenes Debüt „Die Glücksparade“ erzählte von einer trostlosen Adoleszenz auf einem Campingplatz. „Messias“, sein zweiter Roman, ist ambitionierter und vielstimmiger. Was die Texte verbindet, sind der vermeintlich leichte, fluide, doch untergründig angespannte Stil und die fehlende Psychologisierung. Hier aber spiegelt Widmann die Gestimmtheit seiner Figuren in der Qualität ihrer Beobachtungen.

Die Dinge in Einklang bringen

Paul Helmer, einer der drei Handlungsträger, ist 52 Jahre alt und arbeitet in einer Sonderabteilung einer Frankfurter Agentur. Das sogenannte Zwischendeck, so der Name der Abteilung, hat die Aufgabe, neue Kunden zu gewinnen und mit ungewöhnlichen Kampagnen internationale Preise einzuheimsen. Paul wird nach London geschickt, um dort eine Außenstelle der Agentur aufzubauen, deren Hauptkunde wiederum die Betreuung einer Fluggesellschaft namens Oman Airlines sein soll. Der sagenhaft reiche Eigentümer Faisal entwickelt sich im Verlauf des Romans zu einer Schimäre und einem Sehnsuchtspunkt zugleich: Es muss ihn geben, doch niemand bekommt ihn zu Gesicht. Währenddessen bemüht sich Pauls Ehefrau Inge im gemeinsamen Haus im Taunus um einen Handwerker, der das undichte Dach repariert, vor allem aber mit Hilfe eines Psychogurus um die Wiederherstellung ihres inneren Gleichgewichts.

Es geht darum, das Ich und die Dinge wieder in Einklang zu bringen. Überraschend taucht dann auch noch die gemeinsame Tochter Judith auf, die sich in diversen Kunstprojekten versucht hat und nun, ohne Geld, aber offenbar mit einem unheilvollen Erlebnis im Gepäck, zunächst einmal wieder in das elterliche Haus zieht.

Postapokalypse ohne Knall

Agentur-Arbeitswelten und Entfremdung, Sinnsuche und aus dem Ruder gelaufene Taunus-Gattinnen – all das klingt nicht neu und schon gar nicht aufregend. Dass „Messias“ gelungen ist, liegt an Andreas Martin Widmanns schriftstellerischem Können. Er befreit sich von einem rein realistischen Erzählen, indem er die Handlung in eine nahe Vergangenheit hineinsetzt, die jedem Leser vertraut vorkommen muss, jedoch bei Widmann auf unspektakuläre, aber wirkungsvolle Weise verfremdet erscheint.

„Messias“ setzt ein um das Jahr 2012. Der Neubau der Europäischen Zentralbank ist in vollem Gang, die Olympischen Sommerspiele in London sind in Vorbereitung. „Die Zukunft sieht man immer von hinten“, so der Titel des ersten Kapitels. Demgemäß wirkt das Szenario postapokalyptisch, obwohl niemand den großen Knall gehört hat. Die Membran, die das Alltägliche vom Pathologischen trennt, ist hauchdünn. Die Agentur droht den Auftrag zu verlieren, weil Pauls Kollege ohne sein Wissen einen Imagefilm lanciert, der als Affront aufgefasst wird. Durch eine Kette von Zufällen findet Paul heraus, dass der gesamte Auftrag ohnehin in Frage steht. Aber anstatt sein Wissen an die Zentrale weiterzugeben, bleibt er in London. Sein ganzes Streben gilt einem Treffen mit dem mysteriösen Faisal.

Beherrschter Tonfall

Alles ist drin in diesem Roman: die Entindividualisierung und die Zurichtung des Angestellten hin zu einem effizienten und selbstoptimierten Wesen. Das eigentliche Thema ist jedoch die permanente Suche aller Figuren nach Erlösung aus einem selbstgewählten Zustand der Hilflosigkeit. Ob Paul, die desorientierte Inge oder Judith, die sich, wie in Rückblenden erzählt wird, einer sektenähnlichen Aussteigergruppe in Dänemark angeschlossen hat: Sie alle streben auf einen Punkt außerhalb ihres eigenen Einflussbereichs zu. Ob es dort überhaupt noch etwas zu finden gibt, bleibt offen. „Messias“ ist eine ungewöhnliche Variante des Gesellschaftsromans: Andreas Martin Widmann führt in einem beherrschten Tonfall ein entgleistes Bewusstsein vor, das auf Autopilot geschaltet hat. Das ist so gegenwärtig wie beunruhigend.

Andreas Martin Widmann: Messias. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 444 S., 23 €.

Zur Startseite