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En Bauer aus Bronze vor dem Mies-Haus, der dem Schachbrett entflohen ist.

© Roman März

Gregor Hildebrandt im Mies-Haus: Mit Mixed Tapes in den Garten

Lieder für eine Stadt ohne Engel: Eine Ausstellung feiert den Künstler Gregor Hildebrandt, der Tonbänder auf Leinwände setzt.

„Diese Stadt hat keine Engel. Unter Berlin, ein Stück Himmel. Tanzen glücklich, ohne Mangel. Nachtaktive Dilettanten“, singt Alice Gift von Velvet Condom. In Gregor Hildebrandts Soloschau im Mies van der Rohe Haus ist der Song nicht zu hören, aber zu sehen. Der Berliner Künstler appliziert bespielte Tonbänder auf Leinwände. Auf der Streifenstruktur der unterschiedlich großen Formate erscheinen zusätzlich Pinselgesten, die an fernöstliche Kalligrafien oder Malerei des Informel erinnern.

„Im Sturz durch Raum und Zeit“ lautet der Ausstellungstitel. Das ist erstens eine Zeile aus einem Song von Nena, lässt zweitens aber auch die großräumige Geste anklingen, mit der Hildebrandt seine Werke nicht nur im ehemaligen Landhaus Lemke zeigt (der letzten Architektur Ludwig Mies van der Rohes im Vorkriegsdeutschland), sondern mit der Kunst auch den Garten und sogar den angrenzenden Obersee bespielt.

Außen wie innen

Weil der 1974 in Bad Homburg geborene Künstler den Außenraum konzeptuell mit einbezieht, wirken die beiden gleich dimensionierten, rechtwinklig aneinanderstehenden Gebäudeflügel wie aufgeklappt – und die Werke im Garten wie freigelassen. Eine über zwei Meter hohe Schachfigur aus Bronze steht im Gras. Ein Bauer, der dem Schachbrett entflohen ist.

In den Innenräumen ist unübersehbar, dass für Hildebrandt die Analog-Ära noch nicht vergangen ist. Aus zersägten weißen Vinylschallplatten ist das Intarsienbild „Keramik“ zusammengesetzt, das tatsächlich an Scherben erinnert und somit doppelt Sound thematisiert, obschon das Werk keinen Mucks macht. Die schon genannten Magnetbandbilder gehen auf die Mixtapes auf Musikkassetten zurück, mit denen eine noch nicht durchdigitalisierte Jugend noch vor 20, 25 Jahren den Freundeskreis beschenkte. Auf ein Mixtape aus Lieblingstiteln war sozusagen die individuelle Persönlichkeit des Urhebers draufmagnetisiert.

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Mit einem Stück der Einstürzenden Neubauten entdeckte Hildebrandt Ende der 1990er, dass man Tonbänder streifenweise in die Fläche bringen kann. Neben den Magnetbändern kommen noch Klebefilm und Fixativspray zum Einsatz, die oben beschriebenen Kalligrafien entstehen durch Vermalung des noch feuchten Fixativs mit einem Pinsel. Dessen Spuren sind sichtbar, weil die Magnetschicht von Tonbändern an Klebefilm plus Fixativ nicht haftet. Ohnehin bleibt das Kunststoff-Trägerband bei diesem Quasi-Druckverfahren bestehen – so erhält Hildebrandt aus einem Arbeitsgang zwei Bilder: ein Positiv und ein (dunkleres) Negativ. Die Paare nennt der Künstler „Rip Off Couples“.

Schwindende Differenz

Im für das Ehepaar Lemke in den frühen 1930ern erbauten Haus zeigt sich eine kulturelle Differenz der Geschlechter, die heute im Schwinden begriffen ist. Der Flügel mit der Küche ist weiblich, jener mit dem Arbeitszimmer eher männlich konnotiert. Hildebrandt nimmt diese Polarität auf, indem er hier „Positive“ und „Negative“ nicht durcheinander hängt, sondern in gleichen Gruppen pro Hausflügel verteilt. Ein ironischer Reflex auf die alte Ordnung. Im ehemaligen Schlafzimmer hängt das „positive“ Bild „Das Raumschiff“, dessen Maße dem Ehebett des Künstlerpaares Alicja Kwade und Gregor Hildebrandt entsprechen. Ihr Sohn ist durch die Bilderserie „Horatio Herzchen“ repräsentiert. Auch hier stammt das Material aus Musikkassetten. In diesen Bildwerken stecken Zuneigung und Passion. Abstraktion geht bei ihm nie mit Strenge oder Kühle einher.

[Gregor Hildebrandt „Im Sturz durch Zeit und Raum“, Mies van der Rohe Haus, Oberseestraße 60, bis 27. März, Dienstag-Sonntag 11-17 Uhr, einschließlich Feiertagen, Eintritt frei]

An der frischen Luft sind neben der Schachfigur noch das Bild „Schach und Rosen in Stein“ zu sehen – als Lasergravur auf Granit an die Hausmauer gedübelt, das Denkmalamt hat’s erlaubt –, außerdem eine Arbeit im Obersee, die leider nur noch rudimentär zu sehen ist. Bloß ein Mast auf einem schwimmenden Ponton erinnert an das „Segel“, das vor fünf Jahren in einer Segeltuchmanufaktur aus verschiedenen Audiotapes gewebt wurde. Bei der Ausstellungseröffnung Anfang Oktober wurde das swingende Segel wieder gehisst. Es ist Teil einer Performance, die Hildebrandt 2017 auf dem Mittelmeer aufführte. Der Wind trieb ihn im Segelboot von Zypern nach Israel. Am Mast flatterte unter anderem „Love among the Sailors“ von Laurie Anderson. Nach der Devise: Nie ohne stimmige Musik verreisen!Jens Hinrichsen

Jens Hinrichsen

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