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Der Blick zurück. Ein Auschwitz-Überlebender 2019 an der Stätte seiner Leiden. Die Nachgeborenen, glaubt Michael Rothberg, müssen zugleich in viele Richtungen schauen.

© REUTERS/Kacper Pempel

"Multidirektionale Erinnerung": Beziehungsweise singulär

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg sucht Wege aus den Verengungen der deutschen Gedenkkultur.

Seit diesem Frühjahr liegt „Multidirektionale Erinnerung – Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“, die 2009 erschienene Arbeit des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg, auch auf Deutsch vor. International zum kulturwissenschaftlichen Klassiker avanciert, fordert sie insbesondere das Feuilleton heraus. Von der „FAZ“ bis zur „taz“ wird Rothberg vorgeworfen, die Singularität der Shoah infrage zu stellen und der Erinnerungskonkurrenz das Wort zu reden. Wer das Buch gelesen hat, kann darüber nur staunen.

[Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Amerikanischen von Max Henninger. Metropol, Berlin 2012. 404 Seiten, 26 €.]

Das Programm multidirektionaler Erinnerung lässt sich in drei Thesen zusammenfassen. Erstens: Die Shoah darf weder aus der Geschichte der Menschheitsverbrechen herausgelöst noch dürfen ihre Besonderheiten in universalisierenden Großerzählungen – Moderne, Kapitalismus und Kolonialismus – aufgelöst werden. Vielmehr handelt es sich um ein Verhältnis der, so Rothbergs Leitidee, differenzierten Bezogenheit. Zweitens: Holocaustgedenken und Dekolonisierung haben sich teilweise in Dialog miteinander entwickelt und wechselseitig verstärkt. Drittens: Kollektive Erinnerung ist ein dynamischer Aushandlungsprozess, der von Konflikten durchzogen ist. Sie bietet Raum für immer neue Anknüpfungen und Verbindungen.

Koloniale Gewalt und Nationalsozialismus

Rothbergs Studie, deren deutsche Ausgabe Felix Axster und Jana König durch ein Interview mit dem Autor und ein Nachwort gerahmt haben, skizziert dieses Programm in einem einleitenden Kapitel und setzt es in acht weiteren materialreich um. Im Zentrum des zweiten und dritten Kapitels steht die sogenannte Bumerang-These, der zufolge koloniale Gewalt mit dem Nationalsozialismus auf die Metropolen zurückgeschlagen hat. Auf Basis dieser These hat bereits Hannah Arendt 1951, in „Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft“, für die Singularität der Shoah argumentiert. Deren Spezifik macht sie allerdings an einem Außerkraftsetzen instrumenteller Vernunft fest, was im Umkehrschluss bedeutet, alle anderen Menschheitsverbrechen rationalisieren zu müssen.

Spiegelverkehrt hat Aimé Césaire 1950, in seinem „Discours sur le colonialisme“, mit dem „Choc en retour“ (im Englischen und Deutschen als „Bumerang“ eingeführt) die Singularität des Holocaust bestritten und sie in ein unterschiedsloses Verbrechen am „weißen Mann“ aufgelöst. Beide Auffassungen sind auch in heutigen Auseinandersetzungen virulent und werden von Rothberg einer profunden Kritik unterzogen.

Das vierte Kapitel widmet sich W.E.B. Du Bois, dem wichtigsten afroamerikanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, und dessen Warschau-Besuch 1949. Da es Du Bois gelingt, den Einseitigkeiten von Arendt und Césaire zu entkommen, vergleicht Rothberg ihn mit Benjamins Engel der Geschichte – eine dramatische Coda, die an den Schluss des Buches gehört hätte. Kapitel fünf diskutiert anhand der literarischen Werke von André Schwarz-Bart und Caryl Phillips diasporische Identifikationen von 3000 Jahren jüdischer Geschichte mit Sklaverei und Kolonialismus.

Die zweite Hälfte des Buches problematisiert die Standarderzählung, das heutige Holocaustgedenken sei mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem entstanden. Wie Rothberg eindrücklich zeigt, war in Frankreich der Algerienkrieg das prägende Ereignis.

Auch während des Algerienkriegs gab es Lager

Als beispielhaft für das Gelingen multidirektionaler Erinnerung können zwei von Rothberg präsentierte Verknüpfungen gelten. Die erste ist praktischer Art und betrifft die Konzentrationslager des Algerienkrieges. Die zeitgenössische Kritik der Lager bediente sich der Analogie mit dem Holocaust, um sowohl dessen Spezifik zu bekräftigen als auch die koloniale Gewalt anzuprangern. Ihre Form war die rhetorische Frage: „Müssen wir uns damit trösten, dass es in diesen Lagern weder Gaskammern noch Krematorien gibt?“

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Der zweite Fall ist theoretischer Natur und zeigt sich darin, wie W.E.B. Du Bois auf die Trümmerlandschaft des Warschauer Ghettos reagiert: Er fordert ein neues Rassismusverständnis, das sich nicht mehr an der „color line“, den antischwarzen Segregationspolitiken orientiert, sondern auch für die antisemitische Verfolgungsgeschichte Raum bietet. Laut Rothberg hat Du Bois die „Besonderheit der jüdischen Katastrophe“ in seiner Auseinandersetzung mit dem von Nathan Rapaport geschaffenen Ghetto-Ehrenmal anerkannt.

In Rothbergs Studie findet sich keine entwickelte Konzeption der Singularität des Holocausts. Die Kritiker*innen glänzen in dieser Frage allerdings auch nicht mit Klarheit. Im Anschluss an den britischen Philosophen Nigel Pleasants lassen sich drei Versionen der Singularitätsthese unterscheiden: metaphysische und epistemische Unvergleichbarkeit (wofür Elie Wiesel und Dan Diner stehen); Verbrechen eigener Art (so bereits Yehuda Bauer Ende der 1970er Jahre: es gibt Massengewalt und Genozide, und es gibt den Holocaust); präzedenzloser Genozid (diese Variante hat Alan Rosenberg 1987 in Kritik an Bauer entwickelt).

Gleichsetzungen sind so problematisch wie Trennungen

Auch wenn Rothberg und Jürgen Zimmerer jüngst in der „Zeit“ gefordert haben, den Vergleich zu „enttabuisieren“, ist die Position der Unvergleichbarkeit in der gegenwärtigen Debatte kaum vertreten. Die Kritiker*innen Rothbergs verstehen den Holocaust als eigene Verbrechenskategorie, die sie meinen komparativ etablieren zu können. Die multidirektionale Erinnerung ist dagegen auf die Konzeption des präzedenzlosen Genozids festgelegt, da nur diese der Leitidee differenzierter Bezogenheit gerecht wird.

Die deutsche Erinnerungskultur kann von Rothbergs großartiger Studie lernen, dass nicht nur Gleichsetzungen ein Problem sind, sondern auch Trennungen. Nur wenn die differenzierte Bezogenheit der nationalsozialistischen Verbrechen untereinander wie auch auf den (deutschen) Kolonialismus in den Blick kommt, lassen sich Formen des Gedenkens entwickeln, die den Anforderungen einer postmigrantischen, global vernetzten Gesellschaft gewachsen sind. Nur dann kann anamnetische Gerechtigkeit entstehen, die Opferkonkurrenz durch Solidarität ersetzt und die Bedingungen transformiert, die die Katastrophen ermöglicht haben.

Urs Lindner

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