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Ein Plakat mit der Aufschrift „Kultus ist kein Luxus“ bei einer Demonstration gegen Kürzungen im Berliner Kulturetat

© imago/Metodi Popow/IMAGO/M. Popow

Nach den Sparankündigungen des Senats: Was Berlin und die Kultur jetzt wirklich brauchen

Notwendig ist jetzt vor allem ein katalysierender „We Berlin“-Moment und mehr kreative Energie. Wohin wollen wir Berlin bis 2030 weiterentwickeln?

Ein Gastbeitrag von Jochen Sandig

Stand:

Im Jahr 1989 hat sich unsere Stadt von ihrer trennenden Mauer befreit, eine Zeitenwende der positiven Art. Und wo stehen, wohin bewegen wir uns heute? Hat sich die ehemals geteilte Stadt in eine teilende Stadt verwandelt, der Zukunft zugewandt? Oder lebt sie vor allem von ihrem Mythos und dem viel beschworenen Gründergeist der 1990er Jahre, von dem sich Kultursenator Joe Chialo aktuell mehr erhofft?

Gerne möchte ich ihn daran erinnern, dass es damals noch eine schier unbegrenzte und günstige Ressource gab: Raum. Heute können wir davon nur noch träumen. Und alles, was seitdem entstanden ist, kann nur erhalten werden, wenn Räume nicht weiter verloren gehen. Spielräume, Möglichkeitsräume, öffentliche Räume, Räume für Gegenwarts- und Zukunftsfragen - unsere Bühnen, Konzertsäle und Museen. Aber auch die Vielfalt aller freien Projekträume.

Wie steht es um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“?

Der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ ist mittlerweile hochoffiziell dem Amt des Kultursenators zugeordnet. Das ist eine sehr gute Idee, aber wie ist es um die Praxis bestellt? Das weltweit unbestrittene und durch die Sparpolitik des Senats gefährdete Alleinstellungsmerkmal Berlins kann man in drei Worten auf den Punkt bringen: „Berlin ist Kultur!“

Unter diesem selbstbewussten Claim versammelt sich seit Monaten eine Bewegung, welche die kulturellen Akteure und Verbände der Stadt in historisch nie vorstellbarer Solidarität von den kleinen bis zu den großen Institutionen mitsamt allen freien Künsten und Strukturen vereint im Kampf gegen das drohende Fiasko einer weit über 100 Millionen Euro schweren Kürzung im Haushaltsplan für 2025 und die folgenden Jahre.

Das große Problem besteht darin, dass die aktuellen Kürzungsentscheidungen offenbar auch über alle verantwortungsbewussten Köpfe hinweg getroffen wurden.

Jochen Sandig

Dieses Horrorszenario scheint nun brutale Realität zu werden. Wir rasen mit hoher Geschwindigkeit auf eine unsichtbare Mauer zu. Der Schaden, der bei einem derartigen Crash entstehen könnte, ist schwer zu ermessen. Wie konnte es dazu kommen und wie kommen wir aus dieser Misere wieder heraus?

Das große Problem besteht darin, dass die aktuellen Kürzungsentscheidungen offenbar auch über alle verantwortungsbewussten Köpfe hinweg getroffen wurden. Nicht einmal einer kleinen repräsentativen Intendantenrunde der größeren Kulturinstitutionen oder dem Rat für die Künste ist es bisher gelungen, mit hoher Dringlichkeit angefragte Termine beim Regierenden Bürgermeister vor der Entscheidung gewährt zu bekommen. Das hat es in einer solchen Situation noch nie gegeben. Man muss doch immer im Gespräch bleiben.

Wo ist eigentlich Kai Wegner?

Ich habe den Regierenden Bürgermeister im Februar 2023 auf dem Holzmarkt kennengelernt, noch bevor er im April sein Amt angetreten hat. Er streckte mir selbstbewusst seine Hand entgegen mit den freundlichen Worten: „Ich bin der Kai.“ Ich habe ihn in weiteren Begegnungen als einen nahbaren Menschen erlebt, doch seit Wochen habe ich mich gefragt: Wo ist Kai Wegner?

Hat er eine solch folgenschwere Entscheidung tatsächlich allein den Fraktionsführern und Haushältern seiner Koalition aus CDU und SPD überlassen? Die Folgen gehen ja weit über das Ressort des Kultursenators hinaus. Kann Berlin ernsthaft noch von einer Olympia-Bewerbung 2036/40 träumen, wenn es sich anschickt, seine wichtigsten Ressourcen zu verspielen?

Die Schließung des Schillertheaters 1993 war ein nationaler Schock, er steht jedoch in keinem Verhältnis zu den aktuellen Plänen, die einen größeren Schaden verursachen werden. Das Signal seinerzeit war eindeutig: Wir können uns in einer zusammenwachsenden Stadt nicht mehr alles an öffentlich geförderten Kulturräumen leisten. Und dem zum Trotz kam es immer wieder zu erfolgreichen privatwirtschaftlichen Neugründungen, an denen ich zum Teil selbst beteiligt war.

Die beiden wichtigen Ankerinstitutionen der Freien Szene, die Sophiensäle und das Radialsystem, zählen dazu und noch heute klingen mir die zukunftsweisenden Worte Ivan Nagels zu dessen Eröffnung im Ohr, die uns gerade jetzt Orientierung geben sollten: „Hier vor unseren Augen geschieht ein Wunder. Es ist kein mystisches Mirakel, sondern ein nüchternes und notwendiges Wunder. Dieses Haus wird gebraucht.“

Wie wollen wir in unsere Zukunft und die der kommenden Generationen investieren?

Jochen Sandig

Wenn wir unsere ganze Berliner Kulturlandschaft einmal als ein solch wunderbar offenes Haus betrachten, als ein Haus mit vielen Zimmern, mit Versammlungsräumen und Sälen, mit Clubs in den Kellerräumen und einer schönen Dachterrasse mit Blick auf einen weiten Horizont, dann erkennen wir doch schnell, dass wir dies für unverzichtbar halten, oder etwa nicht?

Wir brauchen mehr kreative und weniger Hinterzimmer-Bürokratie

Unsere Gesellschaft muss sich natürlich stetig selbst befragen: Was können und wollen wir uns leisten? Wie wollen wir in unsere Zukunft und die der kommenden Generationen investieren? Dies ist eine politische Entscheidung, die im besten Fall in einem gesellschaftlichen Diskurs zwischen Politik und Bürgergesellschaft entwickelt wird. Niemals sollten wir uns von den bestehenden Verhältnissen lähmen lassen, sondern mit Courage und Zuversicht die Weichen für die Zukunft stellen, in der Stadt der Freiheit.

Steckt Berlins „Kultur in der Krise“, wie die aktuelle Streitraum-Reihe an der Schaubühne alarmiert? Ich befürchte, sehr bald, aber noch nicht, denn die meisten Häuser sind voller denn je und Berlins Kultur blüht in seiner großen Vielfalt, trotz stetig steigender Kosten. Das kann man zum Beispiel von New York nicht behaupten, das sich kulturell von der Pandemie noch nicht erholt hat.

Können wir es uns leisten, in unseren Krisenzeiten auf eine starke Kulturlandschaft zu verzichten? Ist es zu verantworten, sie strukturell durch die fatalen Kürzungen zu schwächen? Müssen wir nicht vielmehr die Kultur stärken, um die aktuellen, gerade auch die wirtschaftlichen Krisen besser zu überwinden?

Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda geht da mit gutem Beispiel voran und erhöht den Kulturetat seiner Stadt um zehn Prozent! Aus zahlreichen stadtökonomischen Gutachten zur Umwegrentabilität geht eindeutig hervor, dass jeder Euro, der in die Kultur investiert wird, an anderer Stelle der Verwertungskette mehrfach wieder zurückfließt. Und das gilt in Berlin in gesteigertem Maß.

Für das kommende Jahrzehnt gilt es gerade in der Krise, eine neue Stadtentwicklungskultur voranzubringen und Berlins Rolle als europäische Kulturmetropole zu festigen. Dafür sollte noch 2025 gemeinsam mit der Kulturverwaltung und anderen Ressorts ein vielfältiges Forum gebildet werden, an dem sich die kulturellen Akteure regelmäßig an kleine und große runde Tische setzen, um an einem strukturellen Zukunftsplan der Stadt aktiv mitzuwirken.

Der Schock über die geplanten Kürzungen ist groß und wir müssen alles dafür tun, sie noch abzumildern. Wir brauchen jetzt vor allem einen katalysierenden „We Berlin“-Moment und mehr kreative und weniger Hinterzimmer-Bürokratie. Wohin wollen wir Berlin bis 2030 weiterentwickeln? Wie können wir unsere Ressourcen und Kapazitäten besser und nachhaltiger nutzen? Welche Strukturen können noch stärkere Synergien für die ganze Stadt entfalten? 2027 wird auch ein neuer Hauptstadtvertrag mit dem Bund geschlossen, in diesem Zusammenhang werden weitere Weichen gestellt werden.

Die Übernachtungssteuer für Touristen und Geschäftsreisende soll künftig auf 7,5 Prozent erhöht werden und schöpft damit über 80 Millionen Euro pro Jahr. Damit dies auch so bleibt, dürfen die kulturellen Leuchttürme nicht erlöschen und sie muss endlich auch als „City Tax for the Arts“ eingesetzt werden! Die Koalition der Freien Szene war seinerzeit an ihrer Einführung aktiv beteiligt und fordert diese sinnvolle Verwendung der Mittel seit Jahren vergeblich.

Ein System der Kreislaufwirtschaft ist essenziell, um frisches investives Kapital an der Quelle seines Ursprungs zu generieren und immer wieder neu zurückzuführen, um einen Rückkopplungseffekt für produktives Wachstum zu schaffen, für Forschung und Entwicklung in den Künsten. Und so könnte auch das Missverhältnis in den Förderstrukturen zwischen Institutionen und Freier Szene zum Besseren gewendet werden. Die prekäre Freie Szene muss aus den aktuellen Kürzungen komplett ausgeschlossen werden, das ist ein dringender Appell an Kultursenator Joe Chialo und eine solidarische Forderung an die institutionell geförderten Häuser und Strukturen.

Trotz des geringen Anteils von 2,1 Prozent am Gesamthaushalt hat die Kultur eine unersetzbar große Wirkung für das Gemeinwohl der Stadt. Die größte Ressource Berlins ist seine Innovationskraft, und da Berlin im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland ein Stadtstaat ist, kommt mir immer wieder der Begriff Berlin-State of the Art in den Sinn. Lasst uns diesen schönen Titel für unsere Metropole gemeinsam erarbeiten und mit Leben füllen!

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