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Brigitte Kronauer

© dpa

Nachruf auf Brigitte Kronauer: Punktgenaue Verwilderung

Die Welt von Neuem verzaubern: ein Nachruf auf die erzählende Sprachartistin Brigitte Kronauer.

Sie wusste genau, was sie wollte: die Moderne bewahren und dennoch zeitgenössisch sein. Sie wusste aber ebenso, was sie nicht wollte: auf Podien sitzen, wenn es nicht um Literatur ging, sondern um irgendwelche vermeintlich brandaktuellen Themen, um formloses Gerede und eigene Profilierung. Wobei sie „Gewäsch und Gewimmel“, wie ihr opulenter, einem Breughel-Bild ähnelnder Roman aus dem Jahr 2013 heißt, also die alltägliche Kunst, sich plaudernd die Welt zurechtzulegen, niemals verachtete. Brigitte Kronauer verehrte die oft weiblichen Künste des Geplauders, die stützende Welterklärung, ob beim Abwasch oder am Küchentisch, beim Spaziergang oder im Gebirge.

Mit Sprache die Welt schöner machen

„Frau Mühlenbeck im Gehäus“ hieß ihr erster Roman. Eine ältere Frau, deren Vorbild die eigene Mutter gewesen ist, bringt einer jüngeren bei, dass das Leben erträglicher wird, wenn man ihm erzählend eine Form und damit einen Sinn verleiht. Gegen Verklärung hatte sie nichts. Der Mensch darf und soll die Welt schöner machen, und wenn ihm das mit der Sprache gelingt, umso besser. Dem Aberglauben, dass nur das Hässliche wahr sei und das Schöne unwahr, ist sie nie verfallen.

Mit ihrer klaren Stimme, dem zarten Helm aus hellblonden Haaren, ihren eleganten Händen, in denen sie gern eine Zigarette hielt, und den beiden Männern, die mit ihr den Alltag und das elbnahe Backsteinhaus in Hamburg teilten, war sie die Diva der deutschen Gegenwartsliteratur. Mit dem Kunstkritiker Armin Schreiber war sie verheiratet, der Maler Dieter Asmus hat sie porträtiert.

Das Geflecht der Wörter

Die 1940 in Essen geborene Schriftstellerin konnte den berühmtesten ihrer Kollegen leichthändig das Wasser reichen. Sie war aus gutem Grund selbstbewusst, dabei unprätentiös und die Freundlichkeit in Person. Wie jeder gute Schriftsteller war sie neugierig. Sie konnte zuhören und beobachten. Und sie machte aus dem, was sie sah, hörte und sich ausdachte, Kunstwerke, die in der deutschen Sprache ihresgleichen suchen. Sie liebte die langen Sätze, die Möglichkeiten von Para- und Hypotaxe, das Geflecht der Wörter, das riesige Reservoir der Tradition, von den verschlungenen Gedankenpfaden der Romantik, etwa eines Clemens Brentano mit seinem Konzept des „verwilderten Romans“, bis hin zu einem Meister der Kürze wie Ror Wolf.

Apollinische Klarheit und dionysische Trunkenheit waren bei ihr fein austariert. Kunst und Natur hatten ungefähr das gleiche Gewicht. Sie wusste, wie schwer es ist, mit den Mitteln der Kunst Wildwuchs herzustellen. Gezielte Verwilderung könnte man ihr Werk überschreiben. Die Vorteile des Bösen und der Boshaftigkeit waren ihr bei aller Freundlichkeit nicht fremd. Wer richtig hinsieht, entdeckt eine Menge unerfreulicher Dinge, und wer Menschen in ihrer ganzen Absonderlichkeit porträtieren will, enthüllt ein riesiges Sammelsurium von Listen und Hinterlisten, Tücke und Heimtücke.

Auf den Spuren von Joseph Conrad

Sie liebte die alten Frauen, auch deren Sarkasmus und bösen Blick, wenn sie kein gutes Haar an der Jugend lassen. Was für Menschenporträts hat Brigitte Kronauer in ihren Werken entworfen! Die bissige Großmutter eines Jurastudenten im Ostende-Roman „Verlangen nach Musik und Gebirge“ etwa und dessen von chorischen Stimmen unterstützte Erzählerin Frau Fesch, die, barsch, unwillig, spöttisch, ihre Aufregung über den nahenden Geliebten verdeckt; die zurückhaltende Rita Münster in einem ihrer früheren Prosawerke; den Literaturwissenschaftler Matthias Roth, den Helden des Romans „Berittener Bogenschütz“", der von einer gewissen Marianne träumt, der Frau eines Freundes, und gleichzeitig Joseph Conrad auf die Spur kommen will.

„Die Leere, Stille, Einöde im innersten Zimmer der Leidenschaft“ meint er dort zu beobachten. Die großen Schriftsteller der See und des Abenteuers hat Brigitte Kronauer immer geschätzt und in vielen Essays für sie geworben. Joseph Conrad und Herman Melville waren die Kraftmeier ihres Kosmos. Trotz ihres unverkennbaren glanzvollen Stils, mit dem sie der vermeintlich spröden deutschen Sprache Geschmeidigkeit beibog, war jedes Buch anders, auch wenn es erkennbare Gruppen gibt: die Essays über Kunst und Menschen, die Erzählungsbände und vor allem die großen Romane. „Der Scheik von Aachen“, 2016 erschienen, ergründet auf der Folie von Wilhelm Hauffs Märchen „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“ die Frage, ob sich Schicksale vergleichen lassen. Eine ältere Frau, gut umsorgt von einer polnischen Haushälterin und einer Putzfrau, besteht darauf, dass ihr eigenes Leiden das gleiche Gewicht haben müsse wie das Leid flüchtender Migranten.

Wucherungen der Weltanschauung

Der Roman kultiviert die alltagserprobten Kräfte, mit denen sich Menschen ihr Leben zurechtlegen, um sich auf die größte Verheißung und die größte Bedrohung einzustellen, auf die Liebe und den Tod. Er ist auch ein Renaturierungsprojekt, nicht nur des abgewrackten rheinischen Braunkohlereviers zwischen Aachen und Köln, sondern auch der kleinen Oasen und Wucherungen der Sprache und der Weltanschauung. Das hat einen Zug ins Konservative, ohne im mindesten reaktionär zu sein. Es ist ein menschenfreundlicher Konservativismus im Sinne eines Odo Marquard, der das Geschichtenerzählen als Kompensation von Modernisierungsschäden gewürdigt hat.

Brigitte Kronauer hat zahlreiche Preise bekommen, darunter den Georg-Büchner-Preis 2005, den Joseph-Breitbach-Preis und den Jean-Paul-Preis. 2004 erschien im Reclam-Verlag ein Büchlein mit dem Titel „Die Tricks der Diva“, der rare Fall einer Erstausgabe in der ehrwürdigen gelben Reihe und das erste Mal, dass der Verlag Leseexemplare herstellte. Dieser zauberhafte Text empfiehlt sich ebenso als Einstieg wie das ebenfalls bei Reclam erschienene Büchlein, „Die Kleider der Frauen“. Ihr Werk wird sonst von Klett-Cotta betreut.

Feier der freien Natur

Dort erschien auch „Teufelsbrück“, ihr wahrscheinlich kunstfertigster Roman, eine Hymne auf die Liebe, die erotische Verzückung, auf Hamburg und die Romantikerstadt Heidelberg. Ihr größter, eigenwilligster und am Ende wohl bedeutendster Roman ist „Die Frau in den Kissen“, eine ekstatische Reflexion des Globalisierungsprozesses, zu einem Zeitpunkt erfasst, als dessen verblüffende Gewalt noch spürbar war – eine Art Anti-Globalisierungsroman avant la lettre und eine Feier der wilden Natur. Eine Frau liegt im Bett und imaginiert die verlorene Ganzheit der Welt. In prächtigen Farben schildert sie, was Flora und Fauna, Himmel und Erde, Kunst und Technik zu bieten haben.

Es ist ein grandioser epischer Trauergesang, der im Wappen des Faultiers die Poesie zum Medium der Wiederverzauberung erhebt. Vor fast 30 Jahren erschienen, ist „Die Frau in den Kissen“ ein bemerkenswert aktuelles Buch. Neben all den emphatischen Augenblicken der Liebe und des Glanzes hat Brigitte Kronauer immer auch der kleinen Abweichung gehuldigt, der niemals pompösen Besonderheit. Anfang August wird ihr letztes Buch erscheinen, dessen Gattung mit „Romangeschichten“ bezeichnet wird. Es trägt den für Brigitte Kronauer charakteristischen Titel „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“. Am Morgen des 22. Juli ist Brigitte Kronauer nach langer schwerer Krankheit in Hamburg gestorben.

Meike Feßmann

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