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V.S. Naipaul.

© imago/Leemage

Nachruf auf V.S. Naipaul: Die Mitte ist nirgendwo

Auf der Suche nach einer Heimat zwischen den Kulturen: Zum Tod des britischen Literaturnobelpreisträgers V.S. Naipaul.

Von Gregor Dotzauer

Nichts leichter, als ihn von heute aus als einen Mann unerträglicher Widersprüche zu verurteilen. Und nichts schwieriger, als ihn von seinem kulturellen und persönlichen Hochmut angesichts seiner Herkunft aus den Tiefen des 20. Jahrhunderts freizusprechen. Vidiadhar Surajprasad Naipaul, kurz V. S. Naipaul, am 18. August 1932 in Chagunas auf Trinidad geboren, kompensierte die von ihm als schäbig empfundene Herkunft aus einer Brahmanenfamilie im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh einerseits durch Überanpassung in seiner Wahlheimat England. Andererseits hatte er durchaus einen Sinn für die koloniale Selbstüberhebung des Westens: Er wollte daraus nur nicht die moralische Überlegenheit der unterdrückten Länder ableiten.

Es gibt keinen bedeutenden Erzähler, der Indien so gnadenlos als „Land der Finsternis“ porträtiert hätte, wie er es 1964 in seiner gleichnamigen Großreportage tat – und keinen, der schärfer mit dem radikalen Islam ins Gericht gegangen wäre, wie er es 1979 in seinem Afrikaroman „An der Biegung des großen Flusses“ wagte. „Ich bin abergläubisch wegen der Araber“, lässt er darin Nazruddin, einen Kaufmann in einem kongoähnlichen Land, sagen: „Sie haben uns und der halben Welt die Religion gegeben, aber ich kann mir nicht helfen, ich habe das Gefühl, dass der Welt schreckliche Dinge bevorstehen, wenn sie Arabien verlassen.“

Unbehaust auf Trinidad

Naipaul war 18 Jahre alt, als er mit einem Stipendium des Oxforder University College in London ankam und vor Einsamkeit fast zugrunde ging. Von einem trotzigen Aufstiegswillen besessen, träumte er von einem Leben als Schriftsteller, hielt sich mit Arbeiten für das Karibik-Programm der BBC über Wasser, scheute aber die direkte Auseinandersetzung mit seinem Außenseitertum: „Herabwürdigung aufgrund der Hautfarbe eignete sich nicht als Material für einen Schriftsteller, wie ich es zu werden gedachte“, erklärte er später. „Weil ich mich als Schriftsteller sah, verbarg ich meine Erfahrungen vor mir selbst.“

Vielleicht war es aber gerade der jahrzehntelange Umweg, der ihn wachsen ließ. „Ein Haus für Mr. Biswas“, sein erster großer Roman aus dem Jahr 1961, gilt bis heute als unverwüstliches Meisterwerk. Mit der Titelfigur, dem Journalisten Mohun Biswas, huldigt Naipaul seinem Vater. Er zeichnet ihn als ewig Unbehausten auf Trinidad, als Teil einer Minderheit, deren Überlebenskampf er von seinem eigenen auf der britischen Insel strikt getrennt hielt.

Teju Cole, so etwas wie der Inbegriff des auch theoretisch sattelfesten postkolonialen Schriftstellers, rühmte die Neuausgabe des Romans vor zwei Jahren als widerständiges Wunder. Zur Person ihres Autors, den er bei einem Abendessen in New York kennenlernte, hielt er Distanz. „Die Schwarzen im Boot“, ein ursprünglich im „New Yorker“ erschienener Essay, der in der Sammlung „Vertraute Dinge, fremde Dinge“ enthalten ist, deutet geschickt an, wie tief ihn die Begegnung mit dem Idol enttäuschte. Er war damit nicht der Einzige.

Als Menschenfeind beschrieben

Für Journalisten, die auf seinem Landsitz im englischen Wiltshire vorsprechen durften, war es in den letzten Jahren eine Art Sport, Naipaul als engherzigen Menschenfeind zu zeichnen – dies umso mehr, als es ihn selbst nicht zu kümmern schien. Sir Vidia, 1989 von der Queen zum Ritter geschlagen und 2001 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, dampfte vor Selbstzufriedenheit. Er hatte, wenn man nur Patrick Frenchs von Naipaul selbst autorisierte Biografie „The World Is What It Is“ zum Maßstab nimmt, keinerlei Angst, sich eine persönliche Blöße geben.

Ob es um seine Bordellbesuche ging oder den nahtlosen Übergang von Patricia Hale, seiner ersten Ehefrau, die noch auf dem Totenbett lag, als er sie für seine zweite Frau, die pakistanische Journalistin Nadira Khannum Alvi, verließ: Er fühlte sich offenbar frei von moralischen Erwartungen, gewann aus dieser Art von Mitleidlosigkeit aber auch literarische Stärke.

„Die Welt ist, was sie ist“: French zitierte damit den ersten Satz aus der „Biegung des großen Flusses“: „Menschen, die nichts sind, die sich erlauben, nichts zu sein, haben in ihr keinen Platz.“ Er wollte lieber jemand sein. Naipaul legte sich mündlich wie schriftlich mit jedem an, der es ihm wert war. Wenn Edward Said ihm vorwarf, er sei in Bezug auf den Islam eine „intellektuelle Katastrophe“, schoss er zurück, indem er erklärte, Said habe weder Ahnung von Literatur noch entscheidende Länder der islamischen Welt wie den Iran oder Indonesien bereist. Zugleich war Naipaul lernfähig: Insbesondere gegenüber Indien milderte er seine pessimistische Einschätzung mehr und mehr ab. Und er verfügte über einen stilistischen, an seinem Vorbild Joseph Conrad geschulten Feinsinn, den man dem Provokateur kaum zutrauen würde.

Romane als Meditation

Das eleganteste, stillste und differenzierteste seiner Bücher, die von der prallen Reportage bis zur dichten Erzählung viele Töne trafen, wurde jene Romanmeditation, die mit ihrem essayistisch kreisenden Zugriff jedes nach vorne drängende Erzählen verweigert. „Das Rätsel der Ankunft“ (1987) erkundet die Gesetzmäßigkeiten einer hybriden Existenz mit einem Zutrauen, das er zuvor nie besaß.

Ganz aus der Landschaft des englischen Südwestens heraus beschwört er spät in seinem Leben eine Neugeburt und eine zweite Kindheit und kontrastiert dies mit dem Sterben seiner Schwester. Er spricht von sich, aber er macht sich damit auch zum Modell eines möglichen Glücks. Vielleicht wollte er auch deshalb bis zuletzt nichts vom Niedergang Europas als einer kulturellen Macht wissen. Nun ist V.S. Naipaul mit 85 Jahren in London gestorben.

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