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Nacht über Teheran: Stoff für die verlorene Generation
Pechrabenschwarz und erhellend: Das heimlich gedrehte iranische Underground-Drama „Critical Zone“ kommt jetzt in die Kinos.
Stand:
Sie löst ihr Kopftuch, hängt sich aus dem Autofenster, mit offenem Haar, schreit „Fuck You!“. Euphorisch, panisch, unbändig, zornig, alles zugleich. Immer wieder schreit sie, immer lauter, bis zur ultimativen Erregung. Ist das jetzt Sex oder Politik, Erotik oder Protest?
Amir, der Drogenkurier mit dem ausdruckslosen Gesicht, sitzt schweigend am Steuer. Vorangegangen war eine Verfolgungsjagd, vielleicht auch unterbrochener Sex.
Es ist die einzige laute, eruptive Szene dieses halluzinogenen Undergroundfilms aus dem Iran, den Ali Ahmadzadeh mit kleinem Team und Mini-Kameras gedreht hat, kurz vor Beginn der Frauenproteste. Im Oktober 2022 wurde der Regisseur, Jahrgang 1986, vorübergehend verhaftet, seitdem immer wieder mit Reise- und Berufsverbot belegt. 2023 konnte er den Goldenen Leoparden für „Critical Zone“ nicht persönlich in Locarno entgegennehmen.
Das Teheran, das er zeigen wolle, sei „wild, müde und krank“, sagt Ahmadzadeh zu seinem dritten, heimlich entstandenen Langfilm. Arbeitsalltag eines Drogendealers: Amir (Amir Pousti) kurvt durch die nächtliche Stadt. In einem Tunnel nimmt er reichlich Stoff entgegen, zerteilt ihn in seiner heruntergekommenen Bleibe in kleine Portionen und fährt seine Stammstrecke ab. Sein einziger Kumpel: die Bulldogge Mr. Fred, die zu Hause auf ihn wartet. Die einzige, die mit ihm spricht: das Navi. Die einzige Nahrung: Joints.
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In Teheran herrscht Grabesstille, wie ein Leichentuch liegt die Dunkelheit auf der Stadt. Aber nicht als Todesbote bewegt sich Amir durch die Straßen und Eingeweide der Metropole, eine Höhlenwelt mit schier endlosen Tunneln, sondern als zauselbärtiger Überlebens-Engel, der Irans verratene, verlorene Jugend mit Stoff versorgt. Pillen, Hasch, Gras, Opium für eine Generation, deren Träume brutal niedergeknüppelt werden. Für etwas Ablenkung, fürs Durchhalten, zur Betäubung, zum Trost.
Apathie und Wut liegen nahe beieinander
Manchmal betätigt Amir sich auch als Rettungssanitäter, wenn er etwa auf Bitten einer verzweifelten Mutter einen jungen Drogenabhängigen versorgt. Manchmal nimmt er Fahrkundschaft mit, wie die Flugbegleiterin, die aus dem Fenster schreit. Und manchmal gerät die Kamera (Abbas Rahimi) selbst in Rausch und Rage: ein wilder, pechrabenschwarzer, dennoch erhellender Trip. Selten liegen Apathie und Wut, Resignation und Aufbegehren so nahe beieinander.
Nicht nur der Jugend verschafft Amir etwas Erleichterung, auch ein Altersheim liegt auf seiner Strecke. Der Schokokuchen, den er gemeinsam mit einer Pflegerin verteilt, ist mit Dope angereichert. Eine Greisin memoriert klassische iranische Verse, mit ein paar Haschkeksbrocken schläft es sich besser danach. Eine Szene von Beckett’scher Absurdität.

© Filmfestival Locarno
Bereits in seinem vorhergehenden Film „Atom Heart Mother“ hatte Ahmadzadeh junge Teheraner:innen porträtiert. Auch dieses Roadmovie spielte fast komplett im Auto und zeigte eine desillusionierte Generation Pop, die Party macht, betrunken und bekifft von der Polizei erwischt wird, sich aber durch laviert. „Atom Heart Mother“, der 2015 auf der Berlinale lief, ist eine surreale Parabel über die Zwischenwelt all jener Iraner:innen, die sich nicht ins Exil zwingen lassen und auf ihrer Freiheit beharren, selbst wenn sie noch so eingeschränkt ist.
„Critical Zone“ ist eine Art Fortsetzung. Und einer der wenigen aktuellen, klandestin produzierten iranischen Filme, die unverblümt von der Gegenwartshölle einer Gesellschaft ohne Zukunft erzählen, neben Filmen wie der Tragikomödie „Ein kleines Stück vom Kuchen“ oder Mohammad Rasoulofs Oscar-Kandidat „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, der im Dezember in die deutschen Kinos kommt.
Sie enthalten die bittere Wahrheit, dass all die mutigen Proteste gegen das Mullah-Regime vorerst vergeblich waren. Die Jugend Irans, auch das erzählt „Critical Zone“, bleibt sich selbst überlassen, vergessen von der internationalen Gemeinschaft.
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