Wann waren Sie das letzte Mal im Kino und hatten ein interessantes Gespräch mit anderen Besucher:innen, Mitarbeiter:innen oder der Person, die den Film ausgewählt hat? Wissen Sie überhaupt, wer das Programm zusammengestellt hat – und warum? Und wann haben Sie das letzte Mal einen Film gesehen, der Geschichten aus Ihrem Kiez oder Ihrer Community erzählt?
Nur wenige Menschen verstehen das Kino noch als einen Diskursraum. Das Kollektiv um das Sinema Transtopia in Berlin-Wedding kam vor einigen Jahren zusammen, um das Kino neu zu denken – als das, was es früher einmal war: ein Ort des Austauschs und der Solidarität.
Früher war Kinobesuch zweifellos ein Gemeinschaftserlebnis. Der erste Film, den mein Vater 1964 sah, wurde auf einem öffentlichen Platz in Atuntaqui, Ecuador, vorgeführt. Eine meiner Tanten erinnert sich, dass sie sich für den Kinobesuch in ein rotes Wollkleid kleidete, während die Nachbarn vor der Tür selbstgemachte Süßigkeiten anboten. Kinobesuche signalisierten soziale Einbindung und Status, setzten aber auch eine Dynamik in Gang, die die Gemeinschaft stärkte.
Leider werden Kinos immer weniger als soziale Treffpunkte genutzt, die Pandemie führte zu einem drastischen Rückgang der Kinobesuche. Heute konsumieren die meisten Menschen audiovisuelle Inhalte allein und Zuhause, wobei die Streaming-Plattformen auf der Grundlage des Internetverhaltens personalisierte Vorschläge machen, von denen die großen Unternehmen profitieren. Diese Entwicklung begünstigt individualistische Gesellschaften, die der Diversität und Komplexität von Gemeinschaftlichkeit oft nicht gerecht werden.
Das Kino kann hier wieder zu einem Ort des gemeinsamen Feierns und vor allem der Gespräche werden; ein Ort, an dem Gemeinschaften sich selbst und einander besser verstehen lernen. So können Gespräche, die durch Filme angeregt werden, auch die künftige Programmgestaltung bereichern. Von diesem Feedback profitieren sowohl das Kino als auch die Community.
Jedes Kino hat die Verantwortung, auf die Vielfalt seines Publikums zu reagieren. Indem sich die Macher:innen etwa für intersektionale Sichtweisen und Chancengleichheit einsetzen, vermeiden sie es, Programme zu entwickeln, die auf ein exklusives Publikum oder bloß auf kommerzielle Vorgaben der Filmindustrie ausgerichtet sind. Auf diese Weise werden historisch vernachlässigten Positionen und Perspektiven verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen Priorität eingeräumt, was ein vielfältigeres, zeitgemäßes Programm gewährleistet.
Identität, physischer Ort, Allianzen
Ein Patentrezept gibt es dafür nicht, jedes Kino findet unterschiedliche Bedürfnisse seiner Communitys vor. Die Entwicklung des Sinema Transtopia zu einem wichtigen Kulturort in Berlin kann hier allenfalls Anregungen geben. Die Gründung vor drei Jahren war mit besonderen Umständen verbunden, die sich nicht ohne Weiteres auf andere Orte übertragen lassen.
Doch man kann die Bedingungen, die einen sozialen Raum ausmachen, auf drei Kriterien herunterbrechen: eine klare Identität, ein physischer Ort und der Aufbau vertrauensvoller Allianzen. Eine Identität ist unerlässlich, um die Positionierung innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes zu definieren. Und als sozialer Raum sollte ein Kino in der Lage sein, die Bedürfnisse seiner Communitys zu erkennen und das Programm entsprechend zu gestalten – und gegebenenfalls auch jederzeit neu anzupassen.

© Marvin Girbig
SİNEMA TRANSTOPIA (in der Eigenschreibweise in Großbuchstaben) drückt seine Identität bereits in seinem Namen aus. SİNEMA mit dem türkischen Buchstaben ‚İ‘ verweist auf die Ursprünge in einem überwiegend von Migrant bewohnten Arbeiterviertel, in dem fast 40 Prozent der Bewohner Türkisch sprechen. Transtopia steht für die utopische und gleichzeitig transnationale Natur der Community.
Der physische Raum ist für ein Kino essenziell; seine Gestaltung bestimmt, was in ihm stattfinden kann. Kommerzielle Kinos müssen sich vor allem auf die Gewinnmaximierung oder den Komfort der Sitzplätze konzentrieren. Beim Sinema Transtopia können wir den Fokus mehr auf die Interaktion legen; zum Beispiel arbeiten wir mit vielen transnationalen Communitys zusammen. Ihnen bietet das Kino einen offenen Raum namens Hane, der als Bühne, Workshopraum, Tanzfläche, Essbereich oder Lesesaal genutzt werden kann.

© Marvin Girbig
Solche Orte werden künftig die Rolle des Kinos in der Gesellschaft bestimmen. Es ist daher entscheidend, das Publikum, seine Mitarbeitenden und Nachbar:innen einzubinden, unabhängig von ihrem Hintergrund oder ihrer Erfahrung in der Film- oder Kulturbranche. Denn zunächst mal geht es um das Zuhören. Die Menschen werden eingeladen, Entscheidungen zu treffen, Veranstaltungen zu organisieren und so die Identität des Kinos mitzugestalten. Partnerschaftliche Allianzen helfen dabei, ein breiteres Spektrum an Communitys zu erreichen.
Räume schaffen für gemeinsame Erinnerung
Zwei Projekte von Sinema Transtopia rücken solche Kooperationen besonders ins Zentrum. „Common Visions Berlin“ richtet sich an Kunstkollektive, Diaspora-Organisationen und Aktivisten. Und das alle zwei Jahre stattfindende Symposium „Cinema of Commoning“ untersucht internationale Kinos als gesellschaftliche Orte, zuletzt mit Partnerschaften in Daressalam, Tanger, Prizren, Beirut, Baku und Dakar.
In Octavio Cortázars Film „Por Primera Vez“ (1967) sagt eine ältere Frau im ländlichen Kuba: „Ich war noch nie im Kino, aber ich stelle es mir wie eine Party vor.“ Diese Vorstellungskraft ist unerlässlich, um das Kino als einen Ort von Zusammenarbeit und Gemeinschaftsbildung zu denken.
Wir vom Sinema Transtopia wollen Ihre Frage beantworten, wer den Film ausgewählt hat, den Sie gerade gesehen haben. Wahrscheinlich treffen Sie diese Person nach der Vorführung an der Bar. Und vielleicht gestalten Sie im Gespräch sogar ein wenig die Zukunft des Kinos: indem Sie Räume schaffen, die gemeinsame Erfahrungen widerspiegeln.
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