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Aus dem Buchenland. So lässt sich die Bukowina übersetzen, aus der Paul Celan stammt. Das Foto entstand Anfang der 60er.

© Keystone

Paul Celan zum 50. Todestag: Das Eigene und das Andere

Fünf Jahrzehnte nachdem sich der Dichter Paul Celan das Leben nahm, fängt das tiefere Verständnis für die Geschichtlichkeit seiner Welt erst an.

Von Gregor Dotzauer

Um den ganzen Zwiespalt seiner dichterischen Existenz zu begreifen, war Abstand bitter nötig. Das halbe Jahrhundert, das seit Paul Celans tödlichem Sprung in die Pariser Seine am 20. April 1970 vergangen ist, hat ihn aus den Himmeln einer bildtrunkenen, von Neologismen und Wortpartikeln flirrenden, sich scheinbar selbst genügenden Poesie immer weiter auf die Erde zurückgeholt.

Dazu brauchte es eine historische Sensibilität, die heute genauer denn je unterscheiden kann, wo Paul Antschel, dem rumänischen Juden aus Czernowitz, der sich später per Anagramm umbenannte, nach dem Krieg tatsächlich antisemitische Kränkungen zugefügt wurden und wo er sie sich vielleicht nur einbildete.

Er schuftete im militärischen Straßenbau

Paradoxerweise mangelte es an dieser Sensibilität in den ersten Jahrzehnten nach dem Holocaust: Celans Vater 1942 im ukrainischen Zwangsarbeiterlager Michailowka zu Tode gekommen, die Mutter dort wenig später durch einen Genickschuss.

Er selbst war der Deportation in die Vernichtungslager entkommen, indem er sich ins Lager Tabaracti bei Buzau in der Großen Walachei zum militärischen Straßenbau hatte verbringen lassen. Die allzu frische Schuld und der Mangel an Wissen über die logistische Dimension der antijüdischen Verbrechen gingen eine unglückliche Liaison ein.

Mehr noch als diese Sensibilität aber brauchte es die posthume Edition der Briefe, die von Celans empfindlichem, herzlichem, leidenschaftlichem, launischem und auch schroffem Wesen zeugen.

Eine gründlich erschlossene Auswahl aus allen Epochen und Lebensbereichen liegt in dem Band „etwas ganz und gar Persönliches“ vor. Er enthält Briefe, die über Celans Stellung im deutschen Literaturbetrieb aus seiner Pariser Randlage heraus Auskunft geben. Und Briefe, in denen er Freunden und Frauen innere Kämpfe offenbart, in denen sich Privates und Poetologisches unentwirrbar überkreuzt.

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Das gilt insbesondere für die Korrespondenz mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Gisèle Lestrange, sowie den Geliebten Ilana Shmueli und Ingeborg Bachmann. Der 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ erschienene, lange unter Verschluss gehaltene Briefwechsel mit der österreichischen Schriftstellerin verrät vielleicht am genauesten, wie er seine Zuneigungen aufteilen konnte, ohne seine Aufrichtigkeit zu verraten.

Schon wegen der spezifischen Fülle dieses relativ neuen Materials kann keine Rede davon sein, dass die neuen Bücher Celans Leben auf Kosten des Werks porträtieren. Sie binden seine Gedichte nur stärker als früher an eine Vision von Sprache zurück, die sich dem Geschichtlichen verpflichtet fühlte.

Die "Todesfuge" als unheimlicher Reflex auf die Vernichtungslager

Als er 1960 den Georg-Büchner-Preis erhielt, verstanden wohl nur die wenigsten, was er in seiner Dankesrede „Der Meridian“ damit meinte, das Gedicht äußere sich „immer nur in seiner eigensten, allereigensten Sache“, vermöge gerade deshalb aber „in eines Anderen Sache“ zu sprechen.

Bei der „Todesfuge“, dem Gedicht, das sich im öffentlichen Bewusstsein fatalerweise als sein einziges verankert hat, lässt sich das kaum übersehen. Einen unheimlicheren Reflex auf die nationalsozialistischen Vernichtungslager kann man sich kaum vorstellen.

Es ist das Verdienst von Thomas Sparr, die „Biografie“ dieses Gedichts geschrieben zu haben. Oder vielmehr: seine Geografie in all ihren Schichten zwischen der versunkenen Bukowina, zwischen Bukarest, Wien, Paris und New York.

Textimmanent ist man als Leser oft verloren. Ein zentrales Gedicht wie „Engführung“ aus dem Band „Sprachgitter“ (1959), lange vor dem unwegsamen Spätwerk entstanden, gibt Rätsel auf, die ohne Hilfestellung kaum zu lösen sind. Und dennoch verteidigen alle Neuerscheinungen den Eigensinn des Werks gegen jede vorschnelle geschichtliche Rahmung.

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Ähnliche Stichworte sind dabei unvermeidlich. Celan und Hölderlin. Celan und Heidegger. Celan und Goll. Die Zugänge sind es nicht. Helmut Böttiger, als Kenner der Materie ausgewiesen, hat mit „Celans Zerrissenheit – Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist“ einen Essay verfasst, der auf 170 Seiten den verqueren Links-rechts-Magnetismus des Dichters zwischen den politisch-ästhetischen Nachkriegsfronten elegant und pointiert zusammenfasst.

Man kann ihn mit Gewinn als Einführung in die Welt von Paul Celan überhaupt lesen. Der Germanist Wolfgang Emmerich hat dazu auf fast dreifacher Länge mit „Nahe Fremde – Paul Celan und die Deutschen“ das akademisch gründliche, dennoch gut lesbare Ergänzungsstück geschrieben.

Celan übertrieben nah ins Herz geschaut

Hans-Peter Kunischs „Todtnauberg – Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung“ wiederum ist ein intellektueller Krimi um zwei Männer, die sich spinnefeind hätten sein müssen, aber trotzdem verbunden fühlten. Der Mittler war Hölderlin – und ein Sinn für das Dichten als höchste Form des Denkens.

Das war schon jenseits von Heideggers NS-Verirrungen problematisch. Für den Philosophen war Dichtung eine Ressource, die man begrifflich ausbeuten konnte, für den Dichter die Sache selbst. „Todtnauberg“ ist solide recherchiert, süffig erzählt und füllt die Leerstellen ihrer drei schlecht dokumentierten Begegnungen mit fiktionalen Mitteln auf. Kunisch gerät dabei nicht ins Spekulieren, neigt jedoch dazu, Celan im Gegensatz zu dem seelisch blickdichten Heidegger zwischendurch übertrieben nah ins bebende Herz zu schauen.

Sein einstiger Suhrkamp-Lektor erinnert sich

Klaus Reichert jagt weniger unbekannten Details nach als dem, was seine Erinnerung an Celan noch hergibt. Seine erste Begegnung mit dem Dichter reicht zurück bis zum Karfreitag 1958, als er 19-jährig an Celans Pariser Tür klopfte, nachdem er ihm zuvor brieflich seine Verehrung und eine Handvoll eigener Gedichte zu Füßen gelegt hatte. Sie endet mit einem Telefonanruf einen knappen Monat vor Celans Tod, als Reichert bei Suhrkamp sein Lektor geworden war.

Kein Tagebuch und keine Notiz konnten ihm helfen. Reicherts Gedächtnis ließ sich von der gemeinsamen Korrespondenz allerdings zu erstaunlich farbigen Details stimulieren.

Entstanden ist ein zeitgeschichtliches Panorama, in dem man mindestens so viel über Klaus Reichert wie über Paul Celan erfährt – was allerdings die Akzente von der reinen Celan-Kunde wohltuend in Richtung eines literarischen Parallelgeschehens verschiebt, das Reichert nicht minder anzog.

So trifft man neben dem großen literaturwissenschaftlichen Celan-Exegeten Peter Szondi, dem Argusaugenbewunderer Theodor W. Adorno und dem Londoner Fürsprecher Erich Fried auch auf poetische Rundumvermittler wie den TU-Germanisten Walter Höllerer und amerikanische Dichter wie Robert Creeley aus dem Umfeld des Black Mountain College und sogar Gestalten der Beat Generation wie Allen Ginsberg. Töne, die Celan fremd bleiben mussten.

Hier gibt es so wenig letzte Antworten auf Celans Heidegger-Attraktion wie über die zu Hölderlin, dem er sich nicht zuletzt durch die Phasen einer klinischen Psychose verbunden fühlte. Mit reicher Anekdotenernte stochert Reichert in den Lücken und setzt dabei Schlaglichter, die Celans Arbeitsweise oft in einer einzigen Zeile aufblitzen lassen.

Bibliografische Angaben zu den Neuerscheinungen:

Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist. Galiani Verlag, Berlin 2020. 200 Seiten, 20 €.

Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 400 Seiten, 22 €.

Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung. dtv, München 2020. 350 S., 24 €.

Klaus Reichert: Paul Celan. Erinnerungen und Briefe. Suhrkamp, Berlin 2020. 292 Seiten, 28 €. (Bis 18.5., nur als

E-Book für 23,99 €.)

Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts. DVA, München 2020. 336 Seiten, 22 €.

Paul Celan: „etwas ganz und gar Persönliches“. Briefe 1934 - 1970. Suhrkamp, Berlin 2019. 1286 Seiten, 78 €.

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