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© Illustrationen: aus »The Soul of Motown«

Soul: Gier + Genie = Pop

Zwei Bücher erzählen, wie Soul zur vielleicht wirkungsmächtigsten Musik des 20. Jahrhunderts aufstieg

Die Revolution begann mit einem Sündenfall. Mit einem langgezogenen „W-e-l-l“, mit schnaufenden Bläsersätzen, einem trötenden Saxofonsolo und einem Sänger, der heiser barmt und protzt: „I got a woman, way over town / She’s good to me, oh yeah / She saves her lovin’, early in the mornin’ / Just for me, oh yeah.“ Als Ray Charles 1954 seinen Song „I Got A Woman“ veröffentlichte, war das ein Skandalon. Das Stück basierte auf dem Spiritual „My Jesus Is All The World To Me“, aber die Liebe, die da besungen wurde, war höchst irdischer Art. Radiostationen boykottierten den Titel, Gläubige beschimpften den Urheber der Promiskuitäts-Hymne als Ketzer. Schließlich hatte er den Gospel, die Musik Gottes, mit Rhythm & Blues, der Musik des Teufels, gekreuzt und daraus einen neuen Sound erschaffen, der bald „Soul“ genannt werden sollte.

„Wenn man sich heute den rumpelnden Rhythmus von ,I Got A Woman’ anhört, kann man sich die ungeheure Wirkung kaum vorstellen, die dieser Song 1954 und 1955 auf Schwarze und Weiße hatte“, schreibt Peter Guralnick. „Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kündigte dieser Song den Beginn eines neuen Zeitalters an.“ Es ist ein Zeitalter, in dem schwarze Amerikaner selbstbewusst als Künstler auftreten, ohne sich hinter der Maske der Religion verstecken zu müssen, in der sie die weißen Hitparaden erobern und ihre eigene Musikindustrie aufbauen. Guralnik setzt dieser Ära, in der Pop zum Katalysator politischer und gesellschaftlicher Umbrüche wurde, mit seinem Buch „Sweet Soul Music“, das nun erstmals auf Deutsch erscheint, ein monumentales, mehr als 500 Seiten umfassendes Denkmal. Soul, das demonstriert das in den USA bereits 1986 herausgekommene Standardwerk mit beeindruckender Materialfülle, definierte die Formeln, mit denen auch Funk, Disco und Hiphop die Welt erobern sollten.

Die Vermischung von Gospel und Blues ergab Soul. Man kann aber auch noch eine andere Rechnung aufstellen: Genie plus Gier gleich Pop. Guralnik schildert die Karrieren von Stars wie Otis Redding, Isaac Hayes, Wilson Pickett oder Aretha Franklin, aber ebenso große Aufmerksamkeit widmet er den Menschen in den Kulissen des Showbusiness, ohne die diese Karrieren nicht möglich gewesen wären, Figuren wie den Plattenfirmenbesitzern Ahmet Ertegun und Herb Abramson (Atlantic Records), dem Produzenten Jerry Wexler oder dem Geschwisterpaar Jim Stewart und Estelle Axton, das vor fünfzig Jahren, Anfang 1960, in Memphis das Label Stax gründete. Sie waren Enthusiasten, aber keine Philanthropen: „Welche Leidenschaft sie für die Musik auch immer empfanden, ihr Hauptmotiv war das Geldverdienen“, befindet Guralnik.

Der Autor, bekannt geworden mit einer zweibändigen Elvis-Biografie, gibt sich als Mischung aus Fan und Feldforscher. Er berichtet begeistert von den Soul-Revuen mit Joe Tex und James Brown, die er als junger Popkritiker Anfang der sechziger Jahre erlebte. „Soul war Ehrlichkeit, Wahrheit und Schmerz und legte sozusagen die Seele frei“, das ist seine Definition des Genres. Der Soul, um dem es Guralnik geht, stammt aus den Südstaaten, er klingt roh, schmutzig und laut, nicht so perfekt durchdesignt wie der Motown-Soul aus der Nordstaaten-Autobauerstadt Detroit, der laut Guralnik „einer strikten Kontrolle unterlag, vom Erscheinungsbild und der Aussprache der Sänger bis hin zu den kleinsten Zwischenrufen auf den Schallplatten“.

Soul ist eine hochgradig politische Musik, Widerborstigkeit gehört zu seinem Wesenskern. Guralnik zitiert den Komponisten Dan Penn: „Die Leute hier im Süden lassen sich von niemand vorschreiben, was sie zu tun haben.“ Diese Musik handelt von Selbstbehauptung und Emanzipation, eingefordert wird, um es mit einem Stück von Otis Redding zu sagen, das in der Interpretation von Aretha Franklin zum Hit wurde: „R-E-S-P-E-C-T“. Der Song, der vordergründig von den Tändeleien eines Liebespaares erzählt, stieg zu einer Erkennungsmelodie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auf.

Auf dem Vordach des Stax-Gebäudes in Memphis, Tennessee, prangte ein stolzer Slogan: „Soulsville USA.“ Das Studio lag in einem ehemaligen Kino, die Beschaffenheit des abschüssigen Bodens und die riesigen, basslastigen Verstärker des Kinos hatten ihren Anteil am unverkennbaren Hall des Memphis-Sound. Memphis war zu Beginn der sechziger Jahre eine streng nach Rassen getrennte Stadt, doch bei Stax schien die Segregation aufgehoben zu sein. Zu den Mar-Keys und Booker T. and the MG’s, den Hausband des Labels, die bei fast allen Aufnahmen dabei waren, gehörten schwarze und weiße Musiker. „Harte Arbeit, Fleiß und Gemeinschaftssinn“ machten, konstatiert Guralnik, die Stax-Philosophie aus.

„The best things in life are free / But you can give them to the birds and bees / I need money, that’s what I want“, heißt es in einem der ersten Motown-Hits aus dem Jahr 1959. Das Stück, ein simpel rumpelnder Blues-Gassenhauer, stammt aus der Feder von Berry Gordy, dem umstrittenen Gründer des Labels. Gordy, ein Schulabbrecher und gescheiterter Profiboxer, hatte in Nachtclubs gesungen und war über seine schlechten Gewinnmargen als Komponist so frustriert, dass er 1959 mit einem Kredit von 500 Dollar in seiner Heimatstadt Detroit eine eigene Plattenfirma aus der Taufe hob, untergebracht in einem bescheidenen Holzhaus. Der Motown-Sound wird von Soulpuristen wie Guralnik als minderwertiger „Bubblegumsoul“ verspottet, aber Gordy gelang mit seinen süßlichen, auf den Teenager-Massengeschmack zielenden Produktionen das Crossover vom schwarzen Ghetto in die weißen Popcharts.

So ist der Band „The Soul of Motown“, in dem der Berliner Musikjournalist Torsten Groß, die Geschichte des Labels erzählt, die ideale Ergänzung zu Guralniks Soul-Enzyklopädie. Groß schreibt essayistisch, jedes seiner Kapitel trägt den Motown-Titel als Überschrift, von „Please Mr. Postman“ von den Marvelettes bis zu „Papa Was A Rolling Stone“ von den Temptations. Befragt, was seine Hit-Formel ausmachte, antwortet der schwarze Mogul Gordy: „Es ging um die Wahrheit. Die Wahrheit, was die Gefühle und die aussage eines Songs betrifft. Wir haben uns da nicht groß was einfallen lassen. sondern es so gesagt, wie wir es selbst erlebt haben. “ Gordy machte sich nicht viel aus Politik, aber als sein genialer Songwriter Marvin Gaye mit „What’s Going On“ eine Anti-Vietnamkriegs-Hymne zum Hit gemacht hatte, ließ er ihn ein ganzes Protestalbum aufnehmen. 1968 wurde Martin Luther King in Memphis erschossen. Damit endete, urteilt Peter Guerlain, auch der Traum vom Soul als versöhnendem Medium. Stax meldete 1976 Konkurs an, Motown wurde 1988 verkauft. was bleibt, ist grandiose Musik.

Peter Guralnik: Sweet Soul Music, Aus d. Englischen v. Harriet Fricke, Basworth Verlag, 541 S., 22, 95 €. Torsten Groß: The Soul of Motown. Eine Labelgeschichte in 15 Songs, Edel, 160 S., mit einer CD, 58 €. Bei Bear Family ist außerdem die großartige, zehn Compilations umfassende CD-Edition „Sweet Soul Music“ erschienen.

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