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Bildnummer: 60064566  Datum: 01.01.1900  Copyright: imago/United Archives International     Marcel Proust French Novelist 1871 1922 kbdig 1900 hoch 0714902 174/464 Portrait author literature writer  PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY

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Proustbetrieb: Sex in den Champs-Élysées

Das Modergerüchlein, die Erinnerung und Onkel Adolphe: Wie der Erzähler in Prousts „Recherche“ einen erotischen Ringkampf mit Gilberte führt.

Gerrit Bartels
Ein Kommentar von Gerrit Bartels

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Sie ist eine der dauerhaftesten, wesentlichsten, vielleicht schillerndsten und auch rätselhaftesten Personen im Figurenkosmos der „Recherche“: Gilberte, die Tochter von Swann und Odette de Crécy, die nach der Neuvermählung ihrer Mutter erst die Stieftochter von Oberst de Forchville und später die Frau von Robert Saint-Loup wird, und damit: eine Duchesse de Guermantes. 

Vor allem ist sie die erste große Liebe des Erzählers. Die Liebe beginnt mit dem ersten Blick, wie es scheint. Auf einem Spaziergang in der Gegend von Méséglise schaut er durch eine Weißdornhecke hindurch auf Swanns Grundstück in Tansonville und wird ihrer angesichtig: Gilberte, ein Mädchen mit rotblondem Haar und einer Gartenschaufel in der Hand. Als sie zurückblickt, „machte sie mit der Hand eine nicht ganz anständige Bewegung“. Erst viele Jahre später weiß der unerfahrene Erzähler diese Bewegung als „ganz bewusste Ungezogenheit“ zu deuten.  

Das „Modergerüchlein“ und die Erinnerung

Expliziter wird es, als er und Gilberte sich regelmäßig in Paris sehen, in den Gärten der Champs-Élysées, beim Spielen. Die Liebe bleibt einseitig. Trotzdem kokettiert Gilberte damit, flirtet sie mit ihm. Eines Tages passiert es dann, nicht ganz zufällig nach einer Madeleine-Episode in einer der Toilettenanlagen der Élysées-Gärten. Beim Warten auf Françoise nimmt der Erzähler die „muffige Frische“ der feuchten Mauern wahr, ein „Modergerüchlein“, das eine unwillentliche Erinnerung auslöst. Diese bleibt noch vage, bereitet ihm aber Genuss, „köstlich, friedvoll und mit einer stetigen, unerklärten und doch zuverlässigen Wahrheit erfüllt.“  

Vielleicht lässt ihn diese Erinnerung nach der Rückkehr zu Gilberte in die Gärten mutig werden, als sie ihm einen seiner Briefe an Swann zurückgeben möchte. Er fordert sie auf, diesen zurückzuhalten, er will mit ihr darum kämpfen. Ganz nahe kommen sie sich nun, sie hält den Brief fest, er versucht, ihn ihr zu entwinden. Dabei bekommt er einen Orgasmus, von ihr womöglich bemerkt: „Wenn Sie mögen, können wir ruhig noch ein wenig ringen.“ 

Auf den Weg nach Hause weiß er, woran ihn der Modergeruch in der Toilette erinnert hat: an das Schlafzimmer seines Onkels Adolphe, den er in Paris im ersten Band besucht und wo er die „Dame in Rosa“, nämlich Odette erstmals getroffen hatte.

Dass es jetzt, in dem zweiten, 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Band „das kleine Ruhegemach meines Onkels Adolphe in Combray“ sein soll, an das er sich unwillentlich erinnert, gehört zu einer der nicht wenigen kleineren Ungereimtheiten der „Recherche“. Gilberte jedoch, die phonetisch nahe bei Albertine ist, entwickelt sich zu der Figur, mit der Proust das Vergessen durchdekliniert.

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