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Radialsystem

© Heinrich

Radialsystem: Pumpwerk der Gefühle

Tanz, Musik und Zukunftsvisionen: Vor drei Jahren wurde das Berliner Radialsystem eröffnet.

Hier ging’s schon immer um die Wurst. Als Berlin im 19. Jahrhundert zur Großstadt wurde, konnten die Fäkalien der Bewohner nicht mehr einfach in den Rinnstein gekippt werden. Eine Kanalisation musste her, und so wurde, auf Betreiben Rudolph Virchows, ein Plan von James Hobrecht realisiert. Mit Hilfe von 12 über das Stadtgebiet verteilten Pumpstationen konnte das Abwasser nun auf die Rieselfelder ins Umland geleitet werden. Die Knotenpunkte des unterirdischen Röhrennetzwerks wurden „Radialsysteme“ getauft. Die 1881 errichtete Nummer fünf war das größte unter ihnen und befand sich auf Höhe des heutigen Ostbahnhofs.

Bis 1999 war die im Stil der märkischen Backsteingotik errichtete Anlage in Betrieb, dann stand sie leer – bis zwei wagemutige Kulturmacher einen wahnwitzigen Plan fassten: Jochen Sandig, der auch Geschäftsführer bei der Tanzcompagnie seiner Frau Sasha Waltz ist, und Folkert Uhde, der die Berliner „Akademie für Alte Musik“ managt, beschlossen, aus dem Radialsystem V einen Kulturort zu machen, freigeistig und frei finanziert, ein Treffpunkt für alle Genres, ein Hotspot der freien Szene der Hauptstadt. Tatsächlich fand sich ein potenter Investor, und der Architekt Gerhard Spangenberg konnte den historischen Baukörper um eine Glas-Stahl-Konstruktion erweitern, die über dem Spree-Ufer zu schweben scheint. Im denkmalgeschützten Altbau entstanden zwei Veranstaltungshallen, im Neubau fanden die Foyers, zwei Studios, Künstlergarderoben sowie Büros Platz. Von der 400 Quadratmeter großen Dachterrasse schweift der Blick über die gesamte Innenstadt.

Am 9. September 2006 startete der Spielbetrieb, Theater-Doyen Ivan Nagel sprach zur Eröffnung von einem „notwendigen Wunder“ – und für Sandig und Uhde begann der Kampf ums tägliche Überleben. In diesem Jahr können sie erstmals eine schwarze Null in ihr Haushaltsbuch eintragen.

815 Abende mit 114 000 Besuchern haben sie mit ihren 21 Mitarbeitern in den drei Jahren gestemmt, 155 davon waren „gewerbliche Veranstaltungen“. Denn das Radialsystem muss Geld verdienen, um die ortsübliche Miete bezahlen zu können. Bei den Vermietungen setzt das Leitungsduo in erster Linie auf Tagungen und Kongresse. Eine weitere Party-Location, finden sie, braucht man hier im hippen Friedrichshain nun wahrlich nicht.

Wer Kunst im Radialsystem machen will, muss sein eigenes Geld mitbringen. Das gilt für Sasha Waltz, die hier Produktionen wie „Jagden und Formen“ oder „Dialoge 06“ gezeigt hat, ebenso wie für Gäste. Längst hat auch die etablierte Szene das Radialsystem für sich entdeckt, das Rundfunk-Sinfonieorchester veranstaltet hier Jugendprogramme und Klassik-Abende mit Herbert Feuerstein, die Opernsängerin Annette Dasch lädt hier zu ihrem nachmittäglichen „Dasch- Salon“ ein. Regelmäßige Reihen sind die „Nachtmusiken“, bei denen sich die Hörer zum bequemeren Lauschen auch schon mal hinlegen dürfen, das Mammut-Projekt „Der ganze Bach“ in 27 Konzerten oder die „Barock Lounge“. Bei den „Radialen Nächten“ sind von heute bis Sonnabend alle vier Hausensembles zu erleben, also neben Sasha Waltz und der Akademie für Alte Musik auch das Solistenensemble Kaleidoskop und das Vocalconsort Berlin.

Allem Erfolg, aller Reputation des Ortes zum Trotz, leiden die beiden Kunstunternehmer Uhde und Sandig aber dennoch darunter, dass sie wegen der permanent prekären Finanzsituation in ihrem Haus nur sehr wenige Projekte aus eigener Kraft anschieben können. Darum haben sie jetzt erstmals offiziell um staatliche Unterstützung gebeten. Bei der Berliner Kulturverwaltung liegt ein Antrag über 167 000 Euro: Im Oktober berät eine Jury über die Vergabe der „Spielstättenförderung“ aus dem Topf für die Off- Szene. Dann entscheidet sich, ob Uhde und Sandig ihre Vision von einer europäischen Akademie für Musiktheater in Berlin realisieren können. Es geht also, mal wieder, um die Wurst.

Infos unter www.radialsystem.de

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