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Rasende Zeiten: Jia Zhangkes Chronik „Caught by the Tides“
Der Filmemacher Jia Zhangke beschließt seine Chronik von Chinas rasantem Weg in die Hypermoderne mit einem Montagekunstwerk, das Spielfilmelemente und Dokumentarisches zusammenfügt.
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Und bis zum Schluss sagt Qiaoqiao kein Wort. Fast zwei Filmstunden lang bleibt ihr Gesicht ein stummer Spiegel der beiden Jahrzehnte, die an ihr vorüberziehen. Von der kohlestaubgetränkten Tristesse im nordchinesischen Datong 2001 bis zum Erlahmen der Lebensgeister während der Corona-Epidemie reicht der Bogen, den Jia Zhangke in seinem halbdokumentarischen Panorama schlägt.
Und während man zusieht, wie rasant sich der Abschied von einem Land der Arbeiter und Bauern hin zu einer urbanen Hypermoderne vollzieht, hört man auch, wie die Zeiten andere Begleitmusiken mit sich bringen. An die Stelle von Volksliedern, alten Schlagern und Melodien der Shanxi-Oper treten Techno und Discohits.
„Caught by the Tides“ ist ein Wunderwerk der Montagekunst auf der visuellen wie der akustischen Ebene. Ein Fest des Ineinandergreifens von Outtakes früherer Filme und nie gesichteten Archivmaterials, mit dem Jia, anfangs per Video, später digital, Chinas Wandlungen festhielt und nun im großen Zusammenhang präsentiert.
„Still Life“ (2006), sein Spielfilm über Fengjie, einer östlich von Chongqing gelegenen Stadt oberhalb der Qutang-Schlucht, die mit dem Bau des Drei-Schluchten-Staudamms niedergerissen, überflutet und neu aufgebaut wurde, erwacht hier mit nicht verwendeten Szenen zu einem zweiten Leben. Auch sein letzter Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ (2018), seinerseits eine Chronik der chinesischen Transformation, mischt sich hier noch einmal ins anfiktionalisierte Geschehen.
Zhao Tao, seit „Platform“ (2000) in Jias Filmen dabei und auch privat an seiner Seite, gleitet so unberührt wie unberührbar durch die Erinnerungsschichten. Die Rolle der Sängerin und Tänzerin Qiaoqiao, zusammengesetzt aus so vielen vergangenen Figuren und ergänzt um einige nachgedrehte Momente, folgt eher einer erzählerischen Zuschreibung als der Erschließung ihrer Persona. Auch Qiaoqiaos Suche nach Bin (Li Zhubin), ihrem einstigen Manager, der sich wortlos aus dem Staub gemacht hat, erweist sich eher als willenlose Unterwerfung unter den chronologischen Lauf der Zeiten denn als erkennbare Verzweiflung.
Die hybride und zugunsten des Dokumentarischen dann doch ungleichgewichtige Form ist, wenn man sich vom allzu vollmundigen Versprechen eines Spielfilms nicht täuschen lässt, aber kein Manko. Sie führt vielmehr ins Essayistische, das von der angedeuteten Liebesgeschichte der beiden überaus locker zusammengehalten wird.
Es würde in die Irre führen, in „Caught by the Tides“, einem Film, der seine Entstehung auch der Isolation der Covid-Zeit verdankt, die Summe von Jias bisherigem Werk zu sehen. Dennoch handelt es sich, wenn man den Auskünften des Regisseurs Glauben schenken darf, um den Abschluss einer Phase, die sich mit der erzählten Zeit dieses Films und dessen Rückgriffen deckt.
Man muss die einzelnen Bezüge nicht kennen, um sich diesem atmosphärisch dichten Film zu überlassen. Aber ein Stück Vertrautheit mit Jias neorealistischem Weltkino, das zwischen dem etwas älteren Türken Nuri Bilge Ceylan und dem sehr viel jüngeren Vietnamesen Phạm Thiên Ân („Inside the Yellow Cocoon Shell“) viele Filmemacher beeinflusst hat, befördert die Freude, die Anspielungen und Wiederholungen zu entschlüsseln.
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