Kultur: Rückruf der Wildnis
Räume und Träume: Kanadische Fotografie im Neuen Berliner Kunstverein
Früher hat hier Bertolt Brecht seine Zigarren gekauft. Heute erinnert nichts mehr daran, dass der kleine Laden einmal ein Tabakgeschäft war. Ein Tisch, ein Stuhl und kahle weiße Wände: Im neuen NBK-Studio direkt neben den Hauptausstellungsräumen des Neuen Berliner Kunstvereins sollen künftig Studenten der Universität der Künste ihre Werke zeigen. Den Anfang bei der Zusammenarbeit zwischen Kunstverein und -hochschule macht der 1972 in Berlin geborene Jan Bünnig, Meisterschüler des britischen Bildhauers Tony Cragg. Bünnig präsentiert zwei Plastiken, von denen eine aussieht wie ein Sandsack aus Aluminium, auf dem ein Riese seine Daumenabdrücke hinterlassen hat. Die zweite besteht aus feuchtem Ton, wird von ihrem eigenen Gewicht niedergedrückt und muss für die Dauer der kleinen Ausstellung mehrmals täglich mit Wasser besprengt werden. So erfindet Bünnig zwar die Bildhauerei vielleicht nicht völlig neu, doch macht er neugierig, welche Talente die UdK-Professoren noch für so bemerkenswert halten, dass sie mit ihrem Namen dafür einstehen.
In der angestammten Galerie des NBK hat derweil die zeitgenössische Fotokunst aus Kanada einen schönen Auftritt. Nach der Schau im Martin-Gropius-Bau letzten September ist dies die zweite Gelegenheit innerhalb weniger Monate, um einen Einblick in die Szene der nordamerikanischen Foto-Nation zu gewinnen. Ähnlich wie in den USA hat die Fotografie in Kanada schon seit Jahrzehnten einen hohen Stellenwert. So ist auch die Auswahl der jungen Kuratorin Marie-Josée Jean durch Reife und erzählerische Differenziertheit gekennzeichnet.
In Kanada lebt man entweder in der Stadt oder in der Wildnis, dazwischen ist kaum etwas. Deshalb leuchtet auch das Thema der Ausstellung auf Anhieb ein. Es ist der Raum – als urbaner, konstruierter oder imaginierter Ort, als erobertes oder noch zu eroberndes Territorium. Bei 13 gezeigten Künstlern meint man zu spüren, dass es einen Subtext gibt, der freilich von den meisten sofort wieder in Frage gestellt wird: Gebäude gewähren Schutz, Gärten bieten Schönheit, doch gleich hinter dem Zaun nehmen Unwirtlichkeit und Verwahrlosung bedrohliche Ausmaße an. Das Dasein als Trotzreaktion gegen die Widrigkeiten der Natur: Für Isabelle Hayeur aus Montreal fängt das bereits in den Hinterhöfen der Städte an. Düster liegen bei ihr verlassene Parkplätze, Garagenzufahrten und Brachen im Zwielicht, während etwas weiter entfernt die erleuchteten Wohnhäuser umso heller strahlen.
Der Fotograf und Filmemacher Stan Douglas treibt die Dialektik noch weiter. Seine Fotos von Filmschauplätzen zeigen nicht nur Gebäude in Gebäuden, sondern liefern die Desillusionierung des Gesehenen mit. Dagegen interessiert sich Mark Lewis, Teilnehmer auch der letzten Berlin-Biennale, für die Schnittstellen der Zivilisation: ein Jumbo auf einem verschneiten Flughafen, schwarze Bäume als Inseln in einem Meer von fahlem Schnee und Eis, ein endloser Wald zu Beginn eines Frühlings ohne jede Fröhlichkeit. In dieser überwältigenden Trostlosigkeit ist kein Platz für romantische Gefühle, nicht einmal für gepflegte Einsamkeit.
Das heißt nicht, dass es in dieser Ausstellung nicht auch lustig zugeht. Der trickreiche Michael Snow verleiht einem animierten Pärchen in einem glücklichen Augenblick surrealistischen Schwung, Carlos und Jason Sanchez erweisen sich als würdige Erben des großen Jeff Wall und erzählen in ihren Bildern ganze Kurzgeschichten, Louise Noguchi beobachtet die Western-Helden der Gegenwart in Action. Eines der faszinierendsten Projekte stammt von dem Konzeptkünstler Vid Ingelevics: Er hat Innenräume von Museen fotografiert, hier das Metropolitan Museum in New York, wobei er sich bei der Wahl seiner Standpunkte an historischen Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert orientierte. Also sieht man Treppenhäuser, Zimmerecken, Übergänge von einem Ausstellungssaal zum nächsten, das alles aus rührend seltsamen, merkwürdig ungelenken Blickwinkeln. Ingelevics macht den Betrachter mit einer unbekannten Seite von Raum vertraut.
Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestraße 128/129, bis 27. Februar; Di–Fr 12–18 Uhr, Sa/So 14–18 Uhr.
Ulrich Clewing