
© Konzerthaus/Marco Borggreve
Rührende Rituale: Ton für Ton Tradition
In der Welt der Klassik gibt es viele Traditionen. Manche dienen dazu, sich gegen Veränderungen zu verschanzen. Die meisten aber haben ihren Sinn.
Stand:
„Tradition ist Schlamperei.“ Das hat der Komponist Gustav Mahler gesagt – allerdings in seiner Zeit als Direktor der Wiener Hofoper. Es ging ihm darum, eine Form der geistigen oder auch organisatorischen Faulheit zu unterbinden, die sich gern hinter der Formulierung verschanzt: „Das haben wir schon immer so gemacht.“
Aber es gibt natürlich auch wunderbare Traditionen, die zum Selbstverständnis einer Kulturinstitution genuin dazugehören und darum liebevoll gepflegt werden. Im Amsterdamer Concertgebouworkest beispielsweise sitzen die Oboen und Fagotte seitenverkehrt – im Vergleich zu allen anderen Orchestern der Welt.
Wenn das Orchester zum Klangkörper wird
Die Dirigentinnen und Dirigenten wiederum müssen ihren Posten vorne an der Rampe mühevoll über steile Stufen erreichen – die im Concertgebouw abwärtsführen, aus der Höhe des 1. Rangs vorbei an den Chorplätzen und dann noch quer durch das Orchester. Wer ohne Stolpern ankommt, hat sich das Recht erarbeitet, den Rest des Abends eine leitende Rolle zu übernehmen.
Sehr gut erinnere ich mich daran, wie ich mal in einer Kritik die Aufstellung der Kontrabässe in einer langen Reihe ganz hinten auf der Bühne (statt, wie sonst üblich, seitlich im Rudel) als britische Skurrilität des Dirigenten Sir Roger Norrington gedeutet habe. Kurz darauf erhielt ich einen sehr freundlichen Brief, in dem er mir erklärte, dass es sich durchaus nicht um seinen Spleen handele, sondern um die historische „Wiener Aufstellung“.
Zu den absolut sinnvollen Traditionen gehört für mich die einheitliche, schwarze Konzertkleidung der Musiker:innen: Weil es im Orchester ja nicht darum geht, mit Einzelleistungen zu glänzen. Viel wichtiger ist der Zusammenklang der Gruppe, die ja danach strebt, zu einem einzigen Klang-Körper zu verschmelzen.
Als absurd traditionsverliebt gelten Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“: eine Spießertruppe, die pedantisch auf die Einhaltung ihrer Vereinssatzung pocht. Und doch findet sich in dieser Oper auch die Erklärung dafür, wie Traditionen überhaupt entstehen können. Quereinsteiger Walther von Stolzing fragt den altgedienten Profi Hans Sachs: „Wie fang‘ ich nach der Regel an?“ Und der antwortet: „Du setzt sie selbst – und folgst ihr dann!“
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