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Charismatischer Titelheld. Christopher Maltman in George Enescus „Oedipe“.

© Monika Rittershaus/Salzburger Festspiele

Salzburger Festspiele: Rauchzeichen aus der Antike

Salzburger Festspiele: Achim Freyer inszeniert „Oedipe“ von George Enescu, Simon Stone „Médée“ von Luigi Cherubini.

22 Jahre lang hatte sich Achim Freyer in Salzburg rar gemacht. Jetzt ist er wieder da, 85 Jahre jung und ganz der Alte. Sein Comeback geriet zum Triumph. Seine Handschrift, als Maler und Regisseur, als Bühnenbildner, Kostüm- und Licht-Designer der Oper „Oedipe“ von George Enescu ist immer noch unverwechselbar die nämliche wie damals. Niemand kann behaupten, man habe diese bizarren Märchenfiguren und überlebensgroßen Puppen, die bewohnbaren Kostüm-Skulpturen und im Zeitlupentempo über die Bühne wandernden Zeichen und Symbole noch nie gesehen. Es wäre auch übertrieben, wenn man diese in Salzburg noch nie gezeigte Antiken-Oper aus dem Jahr 1936 als „Wiederentdeckung“ einer verschollenen Rarität feierte. Die hatte schon vor acht Jahren in Brüssel stattgefunden, in einer spektakulären Inszenierung der Artistentruppe La Fura dels Baus.

Wer diese Produktion gesehen und gehört hat, wusste längst, was man in Salzburg erst seit Sonntag weiß: Enescu ist mit seiner einzigen Oper ein Wurf gelungen. „Oedipe" gehört zu den wenigen Musiktheaterwerken der Moderne, die Bestand haben werden. Nur fiel er bislang nur, als eigenwillige, teils spätromantisch-wagnerische, teils avantgardistisch-experimentelle Tragédie Lyrique, durch alle Raster der Wahrnehmung.

Am Ende siegt die singende Säge

Achim Freyer kennt die Arbeit der katalanischen Kollegen, er zieht vor ihnen, höflich nach Freyer-Art, sogar kurz den Hut. In der Schlüsselszene im zweiten Akt, als Held Ödipus vor den Toren der Stadt Theben der Sphinx begegnet, ihr tödliches Rätsel löst und so die Thebaner vom Terror befreit, lässt er das Monster in Begleitung bizarrer Chimären auftreten, es ist quasi mehrfach vorhanden auf der Breitwandbühne der Felsenreitschule. Kommt von links, als grausliche Kreuzung zwischen Kellerassel und wandelndem Zelt; triumphiert mittig als rosa Riesenpuderquaste mit Schmuse-Brüsten im Sofakissenformat; und stürzt rechts außen, in Gestalt einer ausgestopften Riesenpuppe, aus dem Schnürboden, von einem Totenkopf- Knecht kopfüber am Seil heruntergezerrt. Und siehe da: Dieser Knecht trägt unterm Arm ein Modell der Stuka Ju 87, jenem Kampfflugzeug aus dem zweiten Weltkrieg, mit dem die Sphinx in Brüssel eingeflogen war.

Die junge französische Mezzo-Sopranistin Ève-Maud Hubeaux absolviert ihr Salzburg-Debut als düster-leuchtende Sphinx mit Bravour und respektgebietendem Ambitus. So gerät ihre Szene zu einem der Höhepunkte der Premiere, eingeleitet von drohend-nahtlos schmelzendem Violinenfluss, akkompagniert von den Gespensterklangmixturen aus Flöte und Celesta, kulminierend in einem Bläserglissandi-Tumult. Am Ende siegt einsam die singende Säge.

Starke Auftritte

Eine andere großartig instrumentierte, wuchtig ergreifende Schlüsselszene ist die an der Wegkreuzung auf dem Parnass, als Ödipus unwissentlich den eignen Vater erschlägt, wie es ihm Tirésias, der blinde Seher (machtvoll: John Tomlinson) vorhersagte. Wieder eine andere die von zwei schockierenden Orchesterschlägen akzentuierte Selbstblendung des Ödipus, als er die Wahrheit über sich und sein von Geburt an verfluchtes Leben erfährt.

Wiens Philharmoniker agieren unter Leitung von Ingo Metzmacher geschmeidig und beredt, mit feiner Sinnlichkeit und pulsierender Klangpracht. Der Wiener Staatsopernchor absolviert als Thebanervolk oratorienhaft starke Auftritte. Anaïk Morel ist eine seelenvolle Iocaste, Brian Mulligan ein adäquat schnöde gleißender Créon, und auch alle übrigen Partien sind festspielwürdig besetzt, bis in die Nebenrollen von Hirt (Vincent Ordonneau) und Wächter (Tilmann Rönnebeck). Im Mittelpunkt, unschlagbar: Christopher Maltman. Sein viril-jugendlicher, souverän geführter Bariton kennt so viele Nuancen, das der Titelheld der antiken Katastrophe wahrhaft charismatische Züge annimmt. Er wird menschlich kommensurabel, erst recht im tableauhaften, christlich-parsifalesken Erlösungsfinale, wenn Oedipe seinen Frieden macht, mit sich und den Göttern. In diesem einen Punkt, im selig-rauschhaften Epilog, weichen Enescu und sein Librettist von der Vorlage des Sophokles ab.

Maltman steckt im Lieblingskostüm von Silvester Stallone, er tritt auf als ein Boxer, in rotseidenen Shorts. Doch Freyer verweigert ihm die übliche Freyer-Maskierung, als einziger in diesem phantastischen Bilderreigen zeigt Oedipe offen sein verletzliches Menschengesicht. Eine starke Setzung! Darum geht es letztlich, in diesem alten Stück: Um Selbsterkenntnis, wie sie der Gott Apoll einklagte, eingraviert an der Säule im Eingang seines Tempels zu Delphi: „Erkenne dich selbst!“

Simon Stone hält dem Festspielpublikum den Spiegel vor

Gnade der Selbsterkenntnis wird der antiken Edelmigrantin aus Kolchis nicht zuteil. Wieso tötet Medea ihre geliebten Kinder? Luigi Cherubini hat diese Frage in seiner großen romantisch-revolutionären Reform-Oper aus dem Jahr 1797 nicht beantworten wollen, er zeigt vielmehr: Sie weiß es selber nicht, bis kurz vor Schluss. Eindeutig gehört die Sympathie des Komponisten der verstoßenen, verratenen Königstochter, er hat ihr herrliche Ariosi auf den Leib komponiert, große Szenen, in stilistisch höchst disparater Widersprüchlichkeit, voller Leidenschaft, mit rasch wechselnden Affekten. Der Kindermord erfolgt dann so blitzschnell, in einem Finale von nur wenigen Takten, wie eine Übersprunghandlung oder ein Versehen: überraschend, schockartig. Jason dagegen, der ruhmgierige, machtbesessene Anführer der Argonauten, hat eine vergleichsweise undankbare Rolle, in der noch kein Tenor glücklich hat werden können.

Regisseur Simon Stone verlegte die Geschichte kurzerhand nach Salzburg, er hat die Stummfilm-Videos für seine Inszenierung vor Ort selbst gedreht, und hält so dem illustren Festspielpublikum einen Spiegel vor: diese Médée lebt mitten unter uns. Eine kultivierte Upperclass-Lady und Helikopter-Mom, die auf der Terrasse ihrer Villa glücklich mit dem Gatten turtelt, bei freiem Blick auf See und Berge, um die Söhne anschließend hinunter zum Geigenunterricht zu chauffieren, ins Mozarteum. Auf der Bühne im Festspielhaus, live und singend, ist sie nur noch eine Geschiedene, Abgeschobene. Filmsequenzen und SMS-Botschaften ersetzen auf diese Weise die gesprochenen Dialoge aus Cherubinis Werk, das in den Fünfzigern, in italienischer Fassung, mit nachkomponierten Rezitativen, für wenige Jahre dank Maria Callas wieder auferstanden war.

Es mangelt an Feinschliff

Erst seit 2006, seit es eine kritische Originalausgabe der französischen Urfassung gibt, kündigt sich eine zweite Renaissance an. Zuletzt wurde diese „Médée“ von Andrea Breth für die Berliner Lindenoper inszeniert, ihr Einheitsbühnenbild zeigte eine triste Tiefgarage. Dagegen wirkt Stones fidele multimediale Ausstattungsorgie, virtuos auf mehrere Ebenen verteilt, so clean und verlogen wie eine Vorabendfernsehserie. Das ist überschaubar, und es wird sehr schnell fad.

Überdies ist das Stichwort Callas ein Totschlagargument, welches jede Sängerin, die sich der Riesenpartie der Cherubinischen Médée annähert, das Fürchten lehren kann. Elena Stikhina wird ihr zwar gerecht, mit ihrem stählernem Heldinnensopran, der sich mühelos übers Orchester erhebt. Doch nicht nur der Dirigent Thomas Hengelbrock, auch die Wiener Philharmoniker verwechseln Leidenschaft mit Lautstärke, es mangelt an Farben, an Nuancen, an Feinschliff. Auch hat das Salzburger Besetzungsbüro, was die restliche Solistencrew anbelangt, bei dieser Festspielproduktion total versagt. Gibt es für Salzburg keine guten jungen Sänger mehr? Anderswo soll es sie geben.

Eleonore Büning

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