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Kultur: Schätze aus Schneeland

Chinas langer Arm: die umstrittene Tibetausstellung in Berlin

Avalokitesvara hört alles, sieht alles. Und hilft. Ein Strahlenbüschel von tausend Armen wächst aus der elfköpfigen Goldfigur. Anonyme Künstler haben den Heiligen mit Liebe zum Detail geschaffen, bis in die Fingerspitzen hinein. „Oh Juwel und Lotos Haltender, schaue nach mir“ lautet das Mantra der Gläubigen an den Schutzpatron Tibets, der Tatkraft und Hilfe für alle Lebewesen verkörpert.

Rund 200 000 Besucher strömten letztes Jahr in die Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern“ in der Essener Villa Hügel. Die weltweit erste Großausstellung sakraler Objekte aus Tibet ist jetzt in der Sonderausstellungshalle der Museen Dahlem zu sehen. Eine prächtige wie anspruchsvolle Schau: denn die rein ästhetische Betrachtung greift hier zu kurz. Als Symbol einer geistigen Welt müssen die 150 Skulpturen, Kultobjekte, Mandalas und Handschriften gelesen werden. Der ausgezeichnete Katalog (30 Euro) bietet unverzichtbare Hilfestellungen für den westlichen Blick in einen fremden Kosmos. Tibetische Klöster wie Sakya, Tashi Lhünpo, Gyantse Palkhor Chöde oder Shalu gaben erstmals Werke frei.

Eine Sensation, die sich auch der Kuratorin Jeong-hee Lee-Kalisch verdankt. Sie pilgerte mehrfach zu den teils 4000 Meter hoch gelegenen Stätten, um vor Ort Überzeugungsarbeit zu leisten. „Die Werke müssen inventarisiert werden, damit nichts mehr verloren geht“, betont die Professorin. Und: „Es brauchte Zeit, bis die Mönche uns Wissenschaftlern Vertrauen entgegenbrachten.“ Kein Wunder: 3000 Klöster sollen der chinesischen Kulturrevolution zum Opfer gefallen sein. Die kostbaren Reste ihrer einzigartigen Kultur hüten die Tibeter wie den sprichwörtlichen Augapfel. Ohne Unterstützung aus Lhasa (und Peking) wäre die Schau nie zustande gekommen, die sich ausdrücklich „unpolitisch“ gibt. Der größte Trumpf wird gleich im Entrée ausgespielt: Zehn vergoldete Lehrmeister sind lebensgroß im Lotossitz versammelt. Sie stammen aus dem Kloster Mindröl Ling und haben Tibet bisher nie verlassen. Geballte Weisheit, die für das Meditationssystem des „Lamdre“ steht, das seinen Schülern den Weg zur Erleuchtung in nur einem Leben weisen soll. Der Eingang ins Nirvana ist das höchste Ziel auch im tibetischen Buddhismus. Die Kunst des Hochlandvolks erweist sich als Amalgam von Stilen benachbarter Regionen. So haben sich in einem mit Wasserfarben gemalten Rollbild (Thangka) bengalische und nepalesische Merkmale eingeschrieben. Zu sehen ist der historische Buddha auf dem Erleuchtungsthron, umgeben von Szenen aus seinem Leben, wie sie auch Hermann Hesse in „Siddharta“ beschreibt. In den faszinierenden Mandalas der Ausstellung kreist der gesamte Kosmos um den Heiligen im Zentrum. Das jüngste Ausstellungsstück, eine kurios-allegorische Landkarte von 1941, präsentiert das Land als Dämonenfrau, die besänftigt wurde, weil Klöster aus ihren Organen und Gelenken aufragen. Ältestes Exponat ist ein kleiner sitzender Buddha, den eine chinesische Prinzessin in den Himalaya mitgebracht haben soll, im fünften nachchristlichen Jahrhundert. Erst zweihundert Jahre später schlug der Buddhismus in Tibet feste Wurzeln.

Dass „Schneeland“ bis 1950 theokratisch regiert wurde, deutet ein Abschnitt an, der Besitzgüter des Dalai Lama präsentiert. Neben einem abgenutzten Sattel finden sich Gebetsmühle, Glocke, rituelle Wasserkanne und ein goldglänzendes, mit Otterpelz verziertes Brokatgewand. Es stammt aus der früheren Residenz des Herrschers in Potala, Lhasa. Vermutlich hat es dem dreizehnten Dalai-Lama gehört. Wie so häufig sind die Kunsthistoriker hier auf Vermutungen angewiesen – die klösterlichen Leihgeber halten sich bedeckt. Aus dem Besitz des jetzigen Dalai Lama, der nur einen Teil seiner Schätze ins indische Exil mitnahm, darf nichts die Region verlassen, berichtet die Kuratorin. Die klug gegliederte Schau wird auch in Berlin Diskussionen auslösen. Lassen sich Kultur und politische Realität Tibets trennen? Die Alternative wäre vermutlich gewesen: gar keine Ausstellung.

Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern, Sonderausstellungshalle der Museen Berlin-Dahlem, Lansstraße 8, bis zum 28. Mai

Jens Hinrichsen

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