
© Eesti Teatri Festival Draama/Rasmus Kull
Schreie in allen Schattierungen : Neues estnisches Theater
Alljährlich liefern das Draama Festival und der Estonian Contemporary Performing Arts Showcase Einblicke in die zeitgenössische Theaterlandschaft Estlands
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Aus Leibeskräften brüllt Liisa Saaremäel in ihrer Musik-Comedy-Performance „Schrei-Box“, während sie mit der Mikroskopkamera Ansichten ihrer Stimmbänder gewährt. Das neue Theater Tartu in der studentisch geprägten neobarocken Kulturhauptstadt 2024 erbebt. Das junge Publikum findet toll, was Liisa und ihr Bühnenpartner, der Musiker Florian Wahl, sich trauen. Orgiastische Schreie stößt die 31-jährige Saaremäel als genderfluider Eindringling ins bourgeoise Familienidyll auch einen Tag später in der Adaption von Pier Paolo Pasolinis Film „Teorema“ am Drama Theater in Tallinn aus. Geschrien wird auch in der dreistündigen Lecture Performance „Teile und Herrsche“, einem wortlastigen, wenig theatralen Abgesang auf menschliche Schwächen im Zeichen lodernder Feuer, zu sehen im Studentenclub Tartu. Und auch das als „beste estnische Performance 2022“ ausgezeichnete Weltuntergangs-Szenario „The Myth: Last Day“ im unabhängigen Genialistide Klubi in Tartu mündet in eine Brüllorgie der an Florentina Holzinger geschulten Schauspielerin Netti Nüganen. In 90 Minuten windet sie sich als staunende Hobby-Archäologin nackt aus einzementierten Wohlstandstrümmern.
Schreie sind das heimliche Leitmotiv des 9. Estonian Contemporary Performing Arts Showcase in Tallinn und Tartu, der Teil des alljährlichen Draama Festivals ist. Viele der Showcase-Produktionen, die sich gerne auf dem internationalen Theatermarkt behaupten würden, brauchen viel Zeit, um ihr Thema zu etablieren. Am sinnfälligsten wurde das bei der Tanzperformance „Dances to Dream, Resist and Sleep to“, einer kollektiven Anstrengung von acht Frauen, ausgehend vom sexualisierten Powackel-Tanz Twerk, weibliche Selbstermächtigung zu propagieren. Starke Aussagen zur Dekolonialisierung weiblicher Körper verloren sich in weichgespülter Körpererkundung mit Publikumsbeteiligung.
Zwischen Wald und Meer
Die von der Baltic Dance Platform mit 120.000 Euro koproduzierte Show wurde im Viimsi Artium gezeigt. In diesem gigantischen Multifunktionskulturneubau zwischen Wald und Meer sollen Spitzenkräfte und örtliche Kulturinitiativen gleichermaßen ihren Platz finden. Errichtet hat ihn für 16,5 Millionen Euro die Gemeinde Viimsi im Einzugsbereich der Hauptstadt Tallinn, die als reichste des Landes gilt.
Estland ist ein theaterbegeistertes Land. Auf nur 1,3 Millionen Einwohner kommen 900.000 Theaterbesuche im Jahr. Das Kulturministerium fördert 65 staatliche und private Theater- und Opernhäuser und sonstige Spielstätten. Auch der Estonian Showcase und das Draama-Festival werden subventioniert. Der reguläre Spielbetrieb bietet eine große Bandbreite performativer Produktionen und eher textbasierten Ensemble-Theaters, wie im estnischen Drama Theater Tallinn, das 1924 begründet wurde und heute zehn Premieren im Jahr herausbringt. Liisa Saaremäel kennt beide Welten. Nach ihrer klassischen Ausbildung war sie vier Jahre am Drama Theater engagiert und hat sich dann frei gemacht. Aber, so erzählt sie, im kleinen Estland sind die Grenzen fließend. „Etablierte und Unabhängige kennen und schätzen sich und arbeiten immer wieder zusammen.“
Zeitgenössischen kreativen Humus bildete von 2004 bis 2019 das international etablierte Theater No99. Heute arbeiten dessen ehemalige Künstlerische Leiter, die bildende Künstlerin Ene-Liis Semper und der Regisseur Tiit Ojasoo, unter anderem am Estnischen Drama Theater. Zusammen mit dem nationalen Sinfonie Orchester haben sie ein ständig ausverkauftes „Macbeth“-Blutbad in der neoklassizistischen Konzerthalle Tallinn mit fast 1000 Plätzen in Szene gesetzt. Darin ist der Aufschrei gegen den Krieg in der Ukraine in jeder Sekunde spürbar.
Solidarität mit der Ukraine
Die Esten solidarisieren sich, wo sie können, liefern Waffen und Worte. Vor der russischen Botschaft im Herzen der Altstadt von Tallinn ist ein ständiger Protestparcours aufgebaut. Natürlich beteiligen sich die Künstler vom gegenüberliegenden Kanuti Gildi Saal, seit 23 Jahren in einem ehemaligen Zunft-Gebäude ansässig, an den allwöchentlichen Aktionen. „Für uns ist das einfach, wir brauchen ja nur auf die andere Straßenseite zu gehen“, sagt der Künstlerische Leiter Priit Raud.
Ein direkter Bezug zu Russlands Überfall auf die Ukraine findet sich im Theaterschaffen aber selten. Gefeiert wird das Leben und das Überleben, wie in der Performance „Cowbody/Oh wow, it’s you“. Die Performerinnen Hanna Kritten Tangsoo und Sigrid Savi haben ihren Tanz um die Tücke der Objekte im Kanuti Gildi Saal und in den Berliner Uferstudios entwickelt. Gefördert wurde das Projekt vom Fonds Darstellende Künste und von Neustart Kultur. So sehen die angestrebten internationalen Koproduktionen aus.
Zum Auftakt des Draama-Festivals war dann in einer ehemaligen Kamm-Fabrik in Tartu allerdings ein mitreißendes Ensemblestück zu bestaunen, das sich unbedingt für die Berliner Festspiele empfiehlt. In „Only Rivers Run Free“ bearbeiten acht Akteure in einer vollgestopften Wohnung Gebrauchsgegenstände wie Tassen, Teller, Toilettenspülung und bespielen im Wechsel Musikinstrumente wie E-Gitarre, Schlagzeug und Saxofon. Der herrlich sinnfreie Sog dieses Soundscapes erinnerte an verspielte Marthaler/Viebrock-Abende und gesanglich an die Berliner Diseuse Cora Frost. Die Mitwirkenden kommen überwiegend aus dem Dunstkreis des legendären Theater No99. Ihre Spielfreude ist und bleibt ansteckend. Die Saxofon-Schreie aus dem Comb Factory’s Servent Center hallten noch lange nach.
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