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Vorbild Fassbinder. Brad Davis in der Verfilmung von Jean Genets „Querelle“.

© imago images/Mary Evans

Sex im Sägewerk: Kevin Lamberts provokanter Gewerkschaftsroman „Querelle de Roberval“

Auf den Spuren von Jean Genet: Der Shootingstar der jungen Quebecer Literatur verknüpft schwule Liebe und politisches Engagement.

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Vor zwei grauen und goldenen Kreissägeblättern lagert ein überirdisch schöner halbnackter Jüngling. Der plastische Hochglanzdruck lässt ihn wie aus Marmor erscheinen.

Die Bücher des Berliner Secession-Verlags beeindrucken immer durch ihre bibliophile Gestaltung, doch mit dieser romantisch-ironischen Kreation aus der Regensburger Traditionsdruckerei Friedrich Pustet übertrifft der Verlag sich selbst. Schläft der Beau auf dem Buchcover oder wurde er von drei Pfeilen tödlich getroffen? Dieses Rätsel geleitet sanft zur Lektüre eines Romans, der alles außer sanft sein will: Kevin Lamberts „Querelle de Roberval“.

Wo bleibt die Solidarität? Diese Grundfrage stellt der Shootingstar der Quebecer Literaturszene in seinem zweiten Roman. Kevin Lambert wurde 1992 in Chicoutimi in der Provinz Quebec als Sohn einer Apothekerin und eines Physiotherapeuten geboren. In einem Interview für die Zeitung „Le Monde“ erinnert er sich, dass er im Schulbus täglich an der Fabrik eines Automobilzulieferers vorbeifuhr, deren Arbeiter streikten.

Dieser stumme Anblick muss sich ihm tief eingeprägt haben. Die Protagonisten seiner „Gewerkschaftsfiktion“ bilden die 21 Fachkräfte des Sägewerks „Scierie du Lac“, zu denen etwa 40 Waldarbeiter auf Honorarbasis dazukommen, sowie die verhasste Betriebsleitung, die den Streikposten schon mal vergifteten Kaffee ausgibt.

Zu Beginn des Romans hält der Ausstand fast ein Jahr den Ort Roberval in Atem, „eine kleine Dreckspfütze aus Bungalows und zweistöckigen Ladenlokalen, die dem Lac Saint-Jean ein Stück von seinem Ufer abnagt“.

Die Kapitel tragen Überschriften wie „Betriebszugehörigkeit“, „Freihandel“ oder „Tarifabschluss“. Doch diese vermeintlich konstruktiven Begriffe verschleiern, dass es in Wahrheit um die Subversion und Destruktion der Verhältnisse durch die Macht der Sexualität geht. Protagonist dieses Aufruhrs ist der 27-jährige Waldarbeiter Querelle, ein Prachtkerl im gestreiften Matrosenshirt.

Kanadischer Shootingstar Kevin Lambert.

© Bénédicte Roscot

Er erinnert an Brad Davis in der Rolle des geheimnisvollen Matrosen Querelle in Rainer Werner Fassbinders gleichnamigem letzten Film und an dessen Vorlage, Jean Genets Roman „Querelle de Brest“ (1947).

So wie der Ur-Querelle beim Landgang für geschlechterübergreifende Verwirrung sorgt, die tödlich enden kann, so verdirbt der kanadische Namensvetter die männliche Jugend: „Querelles Jungs schwänzen die Schule, wenn er sie vormittags fickt, bevor er wieder in die Fabrik muss.“

Das homophobe Kleinbürgertum zersetzt die Gewerkschaftsbewegung durch seine Partikularinteressen und rächt sich an dem schillernden Provokateur. „Querelle de Roberval“ hat nicht von ungefähr den französischen „Prix Sade“ für erotische Literatur gewonnen.

Die explizite Sprache irritiert, zugleich besticht das Konglomerat aus verschiedenen Stilen, die Kevin Lambert alle souverän beherrscht. Eine ziemliche Herausforderung für seinen Übersetzer Frank Weigand, die dieser bewundernswert gemeistert hat.

Im Nachwort verortet er das Werk in der frankokanadischen Literaturtradition, die sich stets gegen die englischsprachige Mehrheit behaupten musste. „École de la Chainsaw“, Schule der Kettensäge, heißt eine Prosarichtung, die auf virile Weise vom harten Leben in den Wäldern erzählt. Nicht nur an diese Tradition setzt dieser irrlichternde Text die Axt an.

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