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Die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir, hier auf einer Aufnahme von 1970. Sie starb im Alter von 78 Jahren am 14. April 1986 in Paris.

© AFP

Simone de Beauvoirs Roman "Die Unzertrennlichen": Sturm und Verzweiflung

Gefühle und andere Sorgen: Simone de Beauvoirs nachgelassener, erstaunlich aktueller Roman „Die Unzertrennlichen“ erzählt von der Liebe zweier Frauen.

Es ist eine ungewöhnliche, heftige Liebeserklärung, die die junge Sylvie ihrer Freundin Andrée macht: „Sie haben es nie erfahren, aber seit dem Tag, an dem ich Sie kennenlernte, waren Sie alles für mich... Ich hatte beschlossen, dass ich, wenn Sie sterben sollten, gleich darauf auch sterben würde.“

Hinter der Romanfigur Sylvie verbirgt sich Simone de Beauvoir, Andrée ist angelehnt an Beauvoirs Freundin Élisabeth Lacoin, genannt Zaza. Simone und Zaza verband eine intensive Jugendfreundschaft. Die 1908 geborene Feministin hat daraus einen Roman gemacht, der erst jetzt auf Deutsch erscheint; spannende Autofiktion aus dem Nachlass Beauvoirs.

Zeitlebens hatte die Autorin und Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre gezögert, den Text zu veröffentlichen. Wie weit sich hier ihre bisexuellen Fantasien offenbaren, sei dahingestellt. Simone de Beauvoir, berühmt geworden durch ihr feministisches Manifest „Das andere Geschlecht“ (1949), hat über ihre sexuellen Präferenzen nie offen gesprochen. Erst durch ihre posthum erschienenen Briefe und Tagebücher wurden ihre bisexuellen Gefühle bekannt.

Vor fast 70 Jahren hat Beauvoir „Die Unzertrennlichen“ geschrieben; Beauvoirs Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir hat das Buch 2020 in Frankreich herausgebracht und mit einem Vorwort versehen. (Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.144 Seiten, 22 €.)

Die Gefühligkeit einer hingebungsvollen Frau

Der Kurzroman erzählt die jugendliche Emphase einer Leidenschaft, die alles will und alles infrage stellt. Auch der stellenweise pathetische Ton ist getragen von dieser emotionalen Absolutheit. Es ist ein klassisch erzählter Roman, ohne den Gestus intellektueller Distanziertheit, ohne den Anspruch sprachlicher Raffinesse, dafür äußerst lebendig und mit viel Herzblut verfasst.

Es gibt hier keine „neue“ Simone de Beauvoir, aber eine ihrer Facetten wird besser erkennbar: die Gefühligkeit einer hingebungsvollen Frau. Dazu erschließt sich eine Menge über das frühe 20. Jahrhundert, in dem gerade Frauen drangsaliert worden sind vom rigiden Katholizismus einerseits, dem moralischen Konservativismus andererseits.

Als Sylvie und Andrée neun sind, lernen sie sich in einer katholischen Pariser Mädchenschule kennen. Bald werden die Freundinnen, die sich siezen, „die Unzertrennlichen“ genannt. Wer liebt und leidet hier mehr? Eindeutig Sylvie, die Ich-Erzählerin, die ihre selbstbewusste und unkonventionelle Freundin vergöttert.

Beide stammen aus einem konservativen bürgerlichen Milieu, aber Sylvie ist zunächst deutlich angepasster als die unverfrorene Andrée; so ist Andrée so etwas wie eine Wunsch-Projektion für Sylvie, eine Art besseres und erstrebenswerteres Ich.

Andrée ahnt nichts von den stürmischen Gefühlen ihrer Freundin. Sie macht sich über alles und alle lustig, über die frommen Lehrerinnen, aber auch über Sylvie, die ehrgeizige Klassenbeste. Erst allmählich verändert sich Sylvie, wird intellektuell eigenständiger, stellt die Autorität der Lehrerinnen infrage. Je selbstbewusster sie wird, umso mehr kann sie die von ihr vergötterte Andrée von ihrem Sockel reißen.

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Denn auch Andrée ist eine Getriebene. Anders als Sylvie stammt sie aus einer wohlhabenden, kinderreichen Familie, in der sie viele Pflichten erfüllen muss, vor allem die Betreuung der jüngeren Geschwister. Ein Korsett, das sie zunehmend einschnürt.

Das großbürgerliche Haus ist in Wahrheit „ein Gefängnis, dessen Ausgänge sorgsam bewacht wurden“. Die strengste Wächterin ist Andrées Mutter, Madame Gallard, die beständig versucht, das Liebesleben ihrer Tochter zu kontrollieren. Ein standesgemäßer Bräutigam muss her, eine Liebesheirat ist ihr hochgradig „suspekt“. Ob sie der Tochter nach dem Abitur ein Studium erlauben wird, steht in den Sternen. Madame Gallard ist die Zukunftsmanagerin ihrer Tochter.

Während im ersten Teil des Romans Andrée die Stärkere ist, drehen sich die Kräfteverhältnisse im zweiten Teil um: Sylvie kümmert sich zunehmend um Andrée, die unter ihrer autoritären Mutter leidet, und hört den Nöten der Freundin geduldig zu.

Es bleiben Schuldgefühl

Eines Tages geht Andrée sogar so weit, sich selbst zu verwunden, indem sie sich eine Axt in den Fuß rammt – Selbstverletzung aus Verzweiflung, um endlich ein paar Wochen Ruhe und Zeit für sich zu haben. Am Ende stirbt Andrée, von einer komplizierten Liebe stark mitgenommen, mit knapp 22 Jahren an einer viralen Enzephalitis, einer Gehirnentzündung.

In „Die Unzertrennlichen“ schwingt stets ein feministischer Unterton mit. Andrée, räsoniert ihre Freundin, ist gestorben, weil sie erstickt ist an den ihr auferlegten Pflichten und Normen. Sie konnte nicht sie selbst sein, lässig, nonkonformistisch.

Man mag den Gedanken, dass Andrée letztlich an ihrer immensen Anpassungsleistung gestorben ist, überzogen finden. Doch die Idee, dass auch selbstbewusste und kluge Frauen zerbrechen können, ist nachvollziehbar. So wirkt Beauvoirs Roman, der mehr ein Porträt von Andrée als ein Selbstporträt ist, erstaunlich aktuell.

Zazas plötzlicher Tod hat die französische Autorin immer umgetrieben. Auch in ihren „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ hat sich Simone de Beauvoir an der Geschichte ihrer Jugendfreundin abgearbeitet. Mit Zazas Tod gehören die „Unzertrennlichen“ der Vergangenheit an.

Es bleibt ein Schuldgefühl, mit dem Beauvoir, die Überlebende, zurechtkommen muss. Warum darf sie, Simone, weiterleben, aber ihre gescheite, lebenshungrige Freundin nicht?

Am Ende wird Andrées Begräbnis beschrieben. Sylvie legt auf das Meer weißer Blumen, die das Grab bedecken, drei rote Rosen. Damit schließt der Roman. Dass er so abrupt abbricht, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass Simone de Beauvoir diesen Tod nie ganz verarbeitet hat.

Franzsika Wolffheim

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