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Kultur: Soweit die Texte tragen

Vor der Volksbühnen-Premiere: Dimiter Gotscheff war immer ein Außenseiter. Nun prägt der Regisseur das Theater der Stadt

Stand:

Eigentlich wollten wir ja über den „Selbstmörder“ reden. Dimiter Gotscheff probt gerade an der Schlusspointe. In Nikolaj Erdmans böser Komödie aus dem Jahr 1928 wird Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow, eine Art frühsozialistischer Prekariatsvertreter, durch eine Verkettung eigentümlicher Missverständnisse zum Selbstmordkandidaten und erfreut sich plötzlich enormer Aufmerksamkeit: Von dem, was sich für die alte russische Intelligenz hält, bis zum Fleischer will jede Fraktion den Selbstmord für ihre Zwecke vereinnahmen und geizt weder mit Bestechungen noch mit hohlen Phrasen. Das Problem ist nur, dass die Suizidmotivation mit jeder Banketteinladung weiter sinkt: Der Prekäre hält sich zwar immer wieder redlich die Knarre an die Schläfe, schafft es aber einfach nicht abzudrücken. So hatte sich auch der sowjetische Staats- und Parteiapparat das schöne neue Menschenbild nicht vorgestellt: Der junge Autor wurde seinerzeit verhaftet und Wsewolod Meyerholds Uraufführung des Stückes 1930 verboten.

Für ihn beginne „Der Selbstmörder“ genau dort, wo seine Tschechow-Inszenierung „Iwanow“ ende, sagt Gotscheff am Ecktisch in der Volksbühnen-Kantine: „Ich nehme die Mannschaft und die Energien aus dieser Arbeit und schicke sie ins nächste Jahrhundert.“ Doch an der Erdman-Ära hält sich der Regisseur nicht auf, sondern kommt geradewegs auf die Bühnen- und Kostümkünstlerin Katrin Brack zu sprechen. Sie knalle ihm „Imperative vor den Latz“, freut er sich. Was bedeutet: Die Brack-Bühne ist keine dekorative Puppenstube zur anschmiegsamen Bespielung, sondern eine abendfüllende Herausforderung. Bei „Iwanow“ verdichtete sich der Bracksche Imperativ zu Dauernebelschwaden. Bei Gotscheffs Volksbühnen-Variante von Marco Ferreris siebziger-Jahre-Skandalfilm „Das große Fressen“ versanken die Orgienwilligen bis zum Hals in Seifenschaum. Und über Bernard-Marie Koltès „Kampf des Negers und der Hunde“ ergoss sich radikal-Brackscher Konfettiregen. Text, Körper und Stimme der Schauspieler – die Urinstrumente des Theaters, auf die Gotscheff sich so radikal wie kaum ein anderer Regisseur verlässt – gewinnen in diesen „Imperativen“ eine Modernität, die technisch hochgerüstete Zeitgeistbemühungen locker in den Schatten stellt.

Die Frage drängt sich auf, an welcher Vorgabe sich also „Der Selbstmörder“ abarbeitet.

„Schaukeln“, antwortet Gotscheff. „Fünfzig Schaukeln.“

Das leuchtet mir nicht ein.

„Mir auch nicht“, sagt Gotscheff trocken und lässt ein sehr bodenständiges Lachen folgen. „Ich bin hier in der Kantine tagelang von Tisch zu Tisch gerannt und habe jeden Schauspieler deswegen verrückt gemacht!“ Gotscheff lacht immer noch. Er wird nächsten Monat vierundsechzig. In diesem Moment sieht er ungefähr halb so alt aus. Nicht, dass er jetzt etwa über Schaukel-Alternativen nachdächte: Theater ist keine Exekution von Konzepten, sondern produktive Auseinandersetzung mit autonomen Kollegen – die Maxime scheint für Gotscheff tatsächlich innere Notwendigkeit zu sein. Das merkt man schon daran, dass er gar nicht daran denkt, sie zu formulieren. Gotscheff sagt stattdessen: „Katrin Brack und meine Schauspieler sind einfach schneller als ich.“ Er selbst sei eher mit der Begabung gesegnet, den anderen bei der Arbeit zuzuschauen. „Und dann klaue ich einfach ziemlich gut!“

Man kann das, was die Schauspieler in Gotscheffs Inszenierungen tun, mal mehr und mal weniger mögen. Aber: man muss sich nie fragen, warum sie es tun. Am allerwenigsten am Deutschen Theater in seiner Inszenierung der „Perser“ des Aischylos. Wie Gotscheff und seine vier Akteure – Margit Bendokat, Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch – diese erste Tragödie der Weltliteratur gerade dadurch vergegenwärtigen, dass sie sich nicht platt-aktualisierend an sie herankumpeln, sondern allein mit Text, Körper und Stimme ins Universelle öffnen, das ist jene Art Sternstunden-Theater, wie es selbst Ausnahmekünstlern nur ganz, ganz selten gelingt. „Die Perser“ gehören definitiv zu den herausragendsten Inszenierungen des Jahres, auch wenn sich die Jury des Theatertreffens für Gotscheffs „Tartuffe“-Inszenierung vom Hamburger Thalia-Theater entschied.

Dass Gotscheff für die „Perser“ Heiner Müllers sperrige Übersetzung wählte, ist zwar konzeptionell unabdingbar. Darüber hinaus hat Gotscheffs Müller-Affinität aber auch biografische Gründe. Schließlich war es seine Inszenierung von Heiner Müllers „Philoktet“ 1983 in Sofia, die den im bulgarischen Parvomei geborenen Regisseur schlagartig berühmt machte. Den Ritterschlag erhielt er vom Meister selbst: In einem Brief, den manche für bedeutender halten als das Stück selbst, schrieb Müller: „In der Körpersprache Eurer Aufführung ... habe ich diese Übersetzung von Text in Theater gesehen, die Transformation der Fabel vom Stellplatz der Widersprüche zur Zerreißprobe für die Beteiligten, den Widerstand der Körper gegen die Notzucht durch den Sachzwang der Ideen.“

In Berlin hat er sich zum prägenden Regisseur entwickelt. Und auch das hat eine Vorgeschichte: Anfang der sechziger Jahre kam er mit seinem Vater aus Bulgarien nach Ostberlin, um Tiermedizin zu studieren, wechselte alsbald zu den Theaterwissenschaftlern und wurde Mitarbeiter Benno Bessons, an Deutschem Theater und Rosa-Luxemburg-Platz. Im Zuge der Biermann-Ausbürgerung verließ Gotscheff die DDR und kehrte nach Bulgarien zurück. Er kennt sich schmerzlich gut mit Arbeitsverboten aus und inszenierte ab 1986 nur noch im Westen. „Aber meine sozialistischen Gedärme schleppe ich einfach mit mir herum“, sagt Gotscheff. Und so kommen wir über die „Energie-Explosion in der russischen Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre“ doch noch zu Nikolaj Erdman. „Der Selbstmörder“, sinniert Gotscheff: „Was soll ich sagen? Wir sind unterwegs!“

Am nächsten Mittag bei der Probe: In der dritten Zuschauerreihe hüpft ein Mann mit Einstein-Frisur auf und ab. Beim Näherkommen stellt sich heraus, dass es Gotscheff ist: Kleine private Pausenimprovisation mit Samuel Finzi und dessen „Selbstmörder“-Perücke. Dahinter baumeln die Schaukeln vom Schnürboden. „Sehen Sie, es funktioniert!“, strahlt Gotscheff. Dann gehen Samuel Finzi und Wolfram Koch, Dreamteam vieler Gotscheff-Inszenierungen, wieder an die Arbeit. Gotscheff ist mit jeder Körperfaser dabei. Man verständigt sich über die leisesten Andeutung einer Geste. Manchmal springt Gotscheff plötzlich auf die Bühne und tänzelt hoch konzentriert mit federnden Knien um seine Hauptakteure herum. Der Schauspieler Dieter Prochnow sagte einmal: Gotscheff sei der einzige Regisseur, der seine Schauspieler wirklich liebt.

„Der Selbstmörder“, Premiere morgen 19.30 Uhr in der Volksbühne. Wieder am: 10., 17., und 27. März.

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