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Bildung für alle. Im Juni 2019 tragen Schüler und Lehrer Anonymous-Masken - sie protestieren gegen die Abschaffung von Geschichte als Pflichtfach.

© Esteban Felix/dpa

Spaltung der Gesellschaft: Haben die liberalen Eliten versagt?

Die Milieus driften auseinander. Der Grund dafür sei ein Kommunikationsproblem, meint der Publizist Carlo Strenger in seinem neuen Buch "Diese verdammten liberalen Eliten".

Von Caroline Fetscher

Auf der politischen Klimakarte der Welt sind deutlich zwei Teile zu erkennen. Auf der einen Seite ist das Wetter licht und klar, die Sonne der Aufklärung scheint. Auf der anderen Seite brauen sich dunkle, zornige Gewitterwolken zusammen. Das ist die Seite von Parteien wie der AfD, von Politikern wie Donald Trump, Viktor Orbán, Wladimir Putin oder Jair Bolsonaro. Wie konnte diese Klimakarte entstehen? Was hat diesen kulturellen Wandel bewirkt? Liegt es an den Eliten, die von den „Sorgen der Leute“ nichts verstehen wollen? Wie Mark Lilla und Didier Eribon stellt sich der Publizist Carlo Strenger den Fragen des eigenen, progressiven Milieus angesichts von Regression und Rechtsruck (Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. Suhrkamp, Berlin 2019, 172 Seiten, 16 €).

Sein Essay orientiert sich grob an David Goodharts Kategorisierung der „Anywheres“ versus „Somewheres“. Da ist eine mobile, kosmopolitische Elite „anywhere“ auf dem Planeten zu Hause, während man in traditionellen Milieus noch seinen Platz hat, man ist „somewhere“. Dort zählen Kategorien wie Familie, Clan, Volk, Nation, Mythos, Religion, Heimat und Boden.

Strenger, 1958 in der Schweiz geboren, ist Publizist, lehrt Psychologie an der Universität Tel Aviv und praktiziert als Therapeut. (Der deutsche Schäferhund in seiner Praxis hört auf den Namen Freud.) Für seine soziologischen Beobachtungen zu den Eliten nutzt er vor allem drei Ressourcen, die akademische Welt, die Geschichten seiner Patienten, die global unterwegs sind, und den Spiegel, in dem er sich ins Gesicht sieht, mitunter in ein ratloses.

Mehr denn je werden die liberalen Eliten gebraucht

Anders als Eribon oder Lilla will Carlo Strenger die Spaltung nicht den Eliten anlasten, die sich angeblich „abgehoben“ etwa der Lobbypolitik für Nischenpopulationen wie Schwule oder Transgender widmen, anstatt sich um die Nöte der Arbeiterklasse zu kümmern. Jobverluste verdankten sich vielmehr der Transformation der Märkte, dem Outsourcing in Billigländer, der Automatisierung. Nein, es handelt sich, so die Diagnose des Autors, um ein Problem der Kommunikation zwischen den Milieus. Schockiert bis arrogant blicken die aufgeklärten Eliten auf die reaktionäre Gewitterstimmung des anderen Milieus. Dort ist man mangels Analyse aggressiv auf Sündenbocksuche. Rassismus und Antisemitismus grassieren, Establishmentfeindlichkeit, Medienskepis, Isolationswünsche.

Liberale Kosmopoliten, das erfährt Strenger in seiner Praxis, haben durchaus starkes Interesse an sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Viele digitale Millionäre gründen Stiftungen. Die Mehrzahl der Akademiker hofft, dass ihre Forschung Fortschritt bringt. Ihnen allen geht es, ließe sich verkürzt sagen, primär um ethische Fragen – den anderen um ethnische. Mehr denn je, mahnt Strenger, werden die liberalen Eliten gebraucht, in Wissenschaft wie Wirtschaft.

Ende der Selbstkasteiung westlicher Kultur

Leicht und lesbar wird sein Essay vor allem durch die lebendigen Fallgeschichten, die ihn zu soziologischen Befunden leiten. Obwohl enorm erfolgreich, werden viele Patienten von Schuldgefühlen geplagt, häufig, da sie fürchten, die Welt nicht wirklich besser zu machen, oder da sie selber ihr traditionelles Milieu zugunsten des globalen „verraten“ mussten. Etwa Jeff, der als Konfliktforscher an sich zweifelt, Naomi, die sich an der Universität vom dogmatischen Glauben ihrer Eltern befreit oder Mark, der als schwuler Katholik von seiner irischstämmigen Familie in Amerika abgelehnt wird.

Leuten wie ihnen hofft Strenger, mit seinen Deutungen zu helfen. An sich selber kritisiert er im Rückblick die Verächtlichkeit seiner Artikel über die zurückgebliebenen Traditionalisten. Man müsse zu trennen lernen zwischen den Demagogen und dem Demos, zwischen den hetzenden Politikern und den von ihnen Verführten. Nicht zuletzt plädiert Strenger für das Ende der „Selbstkasteiung der westlichen Kultur als Quelle allen Übels“ im Zuge der Postcolonial Studies und warnt vor deren „katastrophalen Folgen“. Sonnenklar argumentiert der Autor wider den Relativismus von links wie rechts und für die liberale, soziale Demokratie.

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