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Jeff Tweedy ist seit über 20 Jahren Frontmann von Wilco.

© Davids/Sven Darmer

Wilco im Tempodrom: Sphärenflug in den Gitarrengötterhimmel

Wieder mal die beste Band der Welt: Wilco durchmessen im Tempodrom die Rockgeschichte – und werden euphorisch gefeiert.

Von Jörg Wunder

Um einen Kommentar zur kurz bevorstehenden US-Wahl kommt in diesen Tagen wohl kein amerikanischer Musiker auf Tournee herum. Auch Jeff Tweedy, Sänger und zweiter Gitarrist der Band Wilco aus Chicago und nicht als homo politicus bekannt, verpackt seine Nervosität am Montagabend im Tempodrom in verunglückten Sarkasmus („if Trump gets in, it’ll be awesome“), den er sofort erschrocken zurücknimmt zugunsten eines aufmunternden „wird schon gutgehen“. Es hört sich wie das Pfeifen im Walde an.
Den haben sich Wilco gleich mitgebracht. Die Bühne ist überwölbt von einem romantischen Pappmaschee-Laubwald – ein Bild wie aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, das durch die farbige Akzente setzende Lichtregie zum schillernden Imaginationsraum wird. Vermutlich würden Wilco auch unter widrigeren Bedingungen ein Weltklassekonzert spielen, aber in dieser hinreißend schönen Kulisse fühlen sich die sechs Musiker sichtlich wohl und liefern die rund zweistündige Beweisführung für die These ab, dass sie eine der allerbesten Live-Bands unserer Zeit bilden.
Was nichts Neues ist: In der aktuellen Besetzung, seit 2004 zusammen, hatten Wilco schon zur letzten Jahrzehntwende ein schwindelerregendes Virtuositätsniveau erreicht. Noch besser ist, dass sie sich keineswegs auf ihrem Ruhm auszuruhen gedenken. Vermutlich hätten sie mit einem Repertoire aus elegischer Americana mit Southern-Rock-Grundierung, das ihre fünf Alben der „klassischen“ Periode von 1999 und 2009 prägte, ohne Substanzverlust bis ins Rentenalter touren können. Stattdessen legen sie es darauf an, den Fans etwas zu beißen zu geben.

Melancholiker und Straßenköter

Ihre letzten Alben „Star Wars“ und „Schmilco“ sind gespickt mit dreiminütigen Powerpop-Eruptionen, die im Konzert sogar noch ruppiger klingen und für die es eigentlich keine Band von diesem Können bräuchte. Und doch sind Stücke wie „The Joke Explained“, „Pickled Ginger“ oder „Random Name Generator“ in ihrer Schroffheit unverzichtbar, weil sie dem Abend jeden Anflug einer Best-of-Gemütlichkeit nehmen. Abgesehen davon bieten etliche der jüngeren Werke Jeff Tweedy die Gelegenheit, seine Wandlungsfähigkeit als Sänger zu demonstrieren, der eben nicht nur als gediegener Melancholiker, sondern auch im Straßenkötermodus überzeugt und mehr denn je an den späten John Lennon erinnert. Selbstverständlich wird der Jubel aber am lautesten, wenn die Band Songs aus dem Wilco-Kanon anstimmt. Etwa „Art Of Almost“ mit einem von Irrsinnstrommler Glenn Kotche rabiat geprügelten Fake-Techno-Groove, das an die glorreichen Americana-Urahnen The Band erinnernde „Misunderstood“ oder der trügerischen Country-Walzer „Via Chicago“, in dem eine Bandhälfte immer wieder wie vom Leibhaftigen besessen gegen die ungerührt weiterschunkelnden Kollegen anlärmt. Das Highlight ist natürlich „Impossible Germany“, jener Song, mit dem Wilco vor knapp zehn Jahren das Gitarrensolo als Emotionsgenerator neu erfunden haben. Wenn der einzigartige Nels Cline über majestätischen Melodiebögen zum immer furioseren E-Gitarren- Crescendo abhebt, durch die harmonischen Powerchords von Tweedy und Teilzeit-Drittgitarrist Pat Sansone bei seinem Sphärenflug begleitet wird, nur um dann noch entrückter dem Gitarrengötterhimmel entgegenzustürmen, schießen einem die Tränen in die Augen.

Meisterwerke aus dem enormen Repertoire

Dabei grenzt es an ein Wunder, wie geschmeidig sich der 60-jährige Exzentriker Nels Cline, der sich an der Seite seines Zwillingsbruders Alex in den 80ern mit rabiatem Avantgarde-Jazz einen Namen machte, in dieses Kollektiv jüngerer Musiker (der zweitälteste ist Bassist John Stirrat, 48, Keyboarder Mikael Jorgensen mit 44 der jüngste) einfügt. Artig bedient er in „Jesus, Etc.“ die Pedal Steel Guitar und lässt sich beim durchaus längere Soloausflüge heraufbeschwörenden „I Am Trying To Break Your Heart“ nur zu kurzen Lärminjektionen hinreißen.
Jeff Tweedy strahlt auch nach über 20 Jahren als Wilco-Frontmann immer noch eine gewisse Nervosität aus – der Mann ist nunmal keine Rampensau. Sein Habitus, seine leicht gebückte Haltung, seine Allerweltsklamotten kennzeichnen einen uneitlen Musiker, der sich seiner menschenfängerischen Wirkung nicht bewusst zu sein scheint. Erleichtert registriert er, als sich nach einer Viertelstunde die Sitzordnung im Tempodrom auflöst und die Fans in Richtung Bühne strömen. Die Nähe, der warmherzige Jubel machen ihn lockerer, selbst seine linkischen Ansagen werden am Ende fast witzig.
Musikalisch gibt es sowieso nichts zu mäkeln. Im Zugabenblock holen Wilco nochmal weit aus und spielen mit „Heavy Metal Drummer“, „Hummingbird“ und „The Late Greats“ drei Meisterwerke aus dem enormen Repertoire. Das Finale gerät zur Machtdemonstration: Das schon auf Platte unfassbare „Spiders (Kidsmoke)“ mutiert in gut zehn Minuten zu einem die Rockgeschichte von etwa 1970 bis zur Gegenwart durchmessenden Trip. Ein Wahnsinn, gefeiert vom angemessen euphorischen Publikum. Wilco: an diesem besonderen Abend wieder mal die beste Band der Welt.

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