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Stille Zeit (2): Sprechendes Schweigen
Die Feiertage zwischen den Jahren mögen von Festen und Turbulenzen heimgesucht werden, man nennt sie trotzdem die stille Zeit. Bis Silvester erkunden wir Phänomene der Stille. Diesmal in der Poesie.
Stand:
Die Stille beginnt für die meisten da, wo das Hörvermögen endet. Beim Menschen liegt die Untergrenze bei etwa 16 Hertz, während die Taube, ganz gegen ihren Namen, schon in Infraschallregionen von 0,1 Hertz zu Hause ist. Die Obergrenze, hinter der sich das weite Reich des Ultraschalls erstreckt, liegt bei maximal 20 Kilohertz. Dagegen bringen es Fledermäuse bis auf 150 Kilohertz, die zur Familie der Eulenfalter gehörenden amerikanischen Schwammspinner schaffen sogar noch ein wenig mehr. Den einsamen Rekord aber hält die Große Wachsmotte mit 212 Kilohertz, was ihr beim Orten ihres hartnäckigsten Jägers, der Fledermaus, klare Fluchtvorteile verschafft.
Aber soll es uns akustisch Frühvollendeten und vom Frequenzspektrum her ein Leben lang unmerklich Ertaubenden ein Trost sein, dass wir nur einen winzigen Ausschnitt des Lärms mitbekommen, der uns tagtäglich umgibt?
Die Dichtung weiß wie die Musik, dass ihre Kunst einer Stille abgelauscht ist, die sich nicht in Dezibel messen lässt. Dennoch denkt sie sich gern in stummere Gefilde hinein, in Bäume, Steine oder Fische, als könnten Bäume bei Wassermangel nicht Klagelaute im Ultraschallbereich ausstoßen, und als hätten Fische nicht ein reiches Repertoire an Lauten. Knurrhähne und Piranhas geben Brummgeräusche von sich, manche Buntbarsche knirschen mit den Zähnen.
Das Geschrei der Stadt hinter sich lassen
Auch Christian Morgenstern muss in einem seiner „Galgenlieder“, in „Fisches Nachtgesang“, tief drunten in den Wassern etwas gehört haben. Er konnte nur nicht sagen, was es war – bis auf einen Rhythmus, der sich ihm offenbarte. Der „Nachtgesang“ ist ein legendäres Stück Konkreter Poesie: ein sich spiegelsymmetrisch nach oben und unten verjüngendes Gebilde, das aus nichts als zeilenweise wechselnden Strichen und Rundungen besteht, die wie halbe Karpfenmäuler aussehen. Hebungen und Senkungen einer göttlich lautlosen Silbenfolge, deren reine Zeichenhaftigkeit unruhige Geister nicht auszuhalten scheinen: Es gibt zahlreiche Rezitationen und Vertonungen.
Aber in welcher absoluten Stille hält man es schon gerne aus? Erich Kästner hatte wie so viele den deutschen Wald im Blick, um das „Geschrei der Stadt“ hinter sich zu lassen. „Die Wälder schweigen“, schrieb er in seinem gleichnamigen Gedicht, „doch sie sind nicht stumm. Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden / und tauscht bei ihnen seine Seele um.“ Vielleicht ist das der Grund, warum sich zu Weihnachten so viele Fichten, Tannen und Kiefern in die Wohnzimmer aufmachen.
Bisher erschienen: Stille Zeit (1) über „Stille Nacht, heilige Nacht“
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