zum Hauptinhalt
Currentzis bei einem Auftritt in der Berliner Philharmonie 2018.

© Foto: Stephan Rabold

Stardirigent Teodor Currentzis: Der Maestro hat Visionen

Teodor Currentzis will die Klassikwelt revolutionieren. Also gründet er ein Orchester und nennt es „Utopia“. So ein Ensemble gibt es bereit in Berlin.

Von Frederik Hanssen

Stand:

Teodor Currentzis ist ein Künstler, der provoziert. Dem 1972 geborenen Dirigenten ist es gelungen, die Klassikwelt zu spalten: In einen Teil, der ihn als Heilsbringer feiert, der mit radikalen Interpretationen den Muff aus den Hochkultur-Tempeln vertreibt. Und in einen anderen Teil, der seine Art des stromstoßartigen Dirigierens nur schwer ertragen kann, seinen Drang, Meisterwerke der Vergangenheit durch die eigene Persönlichkeit zu überwölben.

Dass der Grieche, der seine Karriere über Jahrzehnte in Russland aufgebaut hat, bevor er international bekannt wurde, keine klaren Worte findet, um sich gegen Putins Angriffskrieg zu positionieren, nehmen seine Fans bislang zähneknirschend hin – und ebenso auch das SWR-Symphonieorchester, dessen Chef er seit 2018 ist -, während die Currentzis-Kritiker diese Nicht-Haltung aufs Schärfste verurteilen. Mit seinem privaten Orchester musicaeterna, einer Truppe aus ihm treu ergebenen Instrumentalist:innen und Chorist:innen, will er im November in Moskau auftreten, um Richard Wagners „Tristan und Isolde“ aufzuführen. Anschließend soll die Produktion dann auch in Baden-Baden und Dortmund zu erleben sein.

Es geht um die Suche nach dem wahren Geist des Musikwerkes

Teodor Currentzis

Zuvor aber ist Teodor Currentzis bereits mit seiner neuesten Kreation auf Tour, unter anderem auch am 11. Oktober in der Berliner Philharmonie: „Utopia“ nennt er das Orchester, für das er „die besten Musiker:innen aus aller Welt“ zusammengerufen hat. 112 Profis aus 28 Ländern sollen mit ihm „eine einzigartige kreative Gemeinschaft von Gleichgesinnten“ bilden, die sich „der Suche nach dem besten Klang und dem wahren Geist des Musikwerkes“ verschreibt.

Finanziert wird das ambitionierte Unterfangen nicht von russischen Sponsoren - wie im Fall von musicaeterna, zu deren Sponsoren die VTB Bank gehört, die auf der europäischen Sanktionsliste steht -, sondern von Mäzenen aus westlichen Staaten, die allerdings nicht namentlich in Erscheinung treten wollen. Igor Strawinskys „Feuervogel“ sowie „La Valse“ und die „Daphnis et Chloé“-Suite von Maurice Ravel stehen auf dem ersten „Utopia“-Programm, 2023 soll eine Tournee mit Gustav Mahlers monumentaler 3. Sinfonie folgen.

Werke des Kernrepertoires sind das, die man überall in den Kulturmetropolen von den Spitzenorchester hören kann. Maestro Currentzis aber will selbstverständlich darüber hinaus gehen, will unabhängig von Institutionen sein, um das Unerhörte Klang werden zu lassen: „Unsere Träume können nur dann wahr werden, wenn wir das Verbot des Unmöglichen aufheben.“ So sprechen Visionäre. Oder Gurus.

Claudio Abbado kommt einem in den Sinn: Der italienische Dirigent hatte 2003 auch ein Orchester aus Künstlerfreunden gegründet, allerdings im Rahmen des Nobelfestivals im schweizerischen Luzern. Sein ästhetisches Ziel galt der Verfeinerung unserer Wahrnehmung, die Mitspielenden sollten nicht nur auf den Maestro schauen, sondern sich untereinander aufmerksam zuhören, also Kammermusik in großer Besetzung spielen. Das Ergebnis war beglückend.

Die Welt besser, gerechter oder gar inklusiver gemacht aber hat Abbados Lucerne Festival Orchestra nicht. Ebenso wenig wie Currentzis das mit seinem Projekt gelingen wird. Ganz anders liegt der Fall bei einem Berliner Ensemble, das bereits seit 2018 den Namen „Utopia“ trägt. Und zwar ganz zu Recht: Denn der Dirigent Mariano Domingo bringt dabei Menschen mit und ohne Behinderung zum gemeinsamen Musizieren zusammen. Vielleicht spendiert Teodor Currentzis den Mitgliedern des barrierefreien Orchesters, dessen Namen er annektiert hat, ja wenigstens Tickets für seinen Oktober-Auftritt in der Philharmonie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })