
© Ingar Krauss / VG Bild-Kunst
Suchende Seelen: Die Fotografien von Ingar Krauss
Wanderarbeiter und Jugendliche aus russischen Strafkolonien: In der Berliner Galerie Jaeger Art ist eine Ausstellung mit Porträts des Künstlers zu sehen.
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Vor allem diese Augen ziehen den Betrachter in ihren Bann. Der Blick geht seitwärts am Fotografen vorbei, der den Mann 2007 bei der Spargelernte in Beelitz angesprochen hat: einer der vielen schlecht bezahlten Erntehelfer, ohne die der Betrieb nicht laufen würde.
Er kommt aus der Slowakei, sagt er und schaut weg, wohl auch vom Spargelfeld und dem flachen Brandenburger Land, das ihn wenig interessiert.
Er stellt sich auch nicht in Positur, das Hemd ist halb geöffnet, allein schon der Hitze wegen. Die linke Hand in der Hosentasche, in der rechten die Zigarette, an der er gleich wieder ziehen will.
Die Arbeitspause ist kurz, und er hat an diesem Tag vielleicht noch nicht genug verdient. Viel Geld wird ohnehin nicht herausspringen, höchstens soviel, dass es zum Leben reicht.
Mit den 46 Porträtaufnahmen aus den Jahren 2000 bis 2023 in der neuen Ausstellung der Galerie Jaeger Art wendet sich Ingar Krauss vorzugsweise immer wieder denen zu, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen; die irgendwann den Anschluss zum Erfolg verpasst haben und von Unruhe wie Unrast getrieben sind.
Dem slowakischen Saisonarbeiter steht beides wie auf der Stirn geschrieben, die Novizin in einem nordrussischen Kloster mag damit täglich ringen, der einsame, gealterte Schneider aus Kienitz an der Oder sucht seine Würde zu bewahren, im etwas altmodischen Anzug.
„Die Solitären“ nennt Krauss diese Menschen, in deren Blick und Haltung er etwas entdeckte, das ihn angezogen hat.
Menschen aus dem Oderbruch
„This is not a fashion photograph“ haben er oder die Kuratorin Candice M. Hamelin diese faszinierende Porträtauswahl überschrieben, die in ihrem strengen Schwarz-Weiß, analog aufgenommen und mit eigener Hand teilweise auf altem ORWO-Papier aus Wolfen abgezogen, keinem Modetrend huldigt (Preis je nach Format: 2400-6500 Euro).
Die jeweilige Kleidung charakterisiert natürlich gewollt oder ungewollt die Person, ob sie nun Arbeitsklamotten trägt oder sich, wie ein ukrainisches Mädchen namens Ljuba (eine Aufnahme aus dem Jahr 2003) in einer weißen Bluse präsentiert.
Oder aber, wie die junge Hannah in Zechin im Oderbruch (wo Ingar Krauss seit einigen Jahren, nebenbei mit mehreren Bienenvölkern beschäftigt, heimisch geworden ist), das Gesicht unter ihren langen blonden Haarsträhnen verbirgt.

© Ingar Krauss / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Alle diese Menschen stehen in einem eigenen Lebensraum, der ihnen Schutz und Halt gibt: die rumänischen Kinder, die vor einem Gartenzaun stehen, der die weite Landschaft freigibt, die junge Fechterin in Kaliningrad, die sich vor nunmehr drei Jahren noch gänzlich unbefangen auf ihr Florett stützt, oder jene selbstbewussten drei Männer und die junge Frau, die der Fotograf 2005 auf in der norditalienische Reggio Emilia ansprach.
Tribut an die tropische Farbenwelt
Keine Weltgegend war und ist ihm zu weit entfernt, wenn ihn von dort eine freundliche Einladung erreicht, und sei es wie 2007 aus der philippinischen Millionenstadt Davao.
Mit diesen fast sanft zu nennenden, aber auch forschenden Blicken der jungen Menschen möchte man sich fast von der Ausstellung verabschieden, zudem Ingar Krauss diese vier Schwarz-Weiß-Aufnahmen noch in einem aufwändigen Verfahren behutsam lasiert hat – ein kleiner Tribut an die tropische Farbenwelt.
Wie quer zu solchen hoffnungsvollen fotografischen Souvenirs stehen die Serien aus zwei Strafkolonien für Jugendliche im Umkreis von Moskau aus dem Jahr 2007.
Den Zugang in die normalerweise für Ausländer geschlossenen Bezirke öffnete ihm die damals noch mögliche deutsche Russlandhilfe, die viele gut gemeinte Spenden an viele Orte im Land gebracht hat.
Mal erstaunt, mal abweisend schauen die Jungen und Mädchen auf den fremden Fotografen. Die Anzüge und Kleider der Anstalt sehen aus wie Vorstufen der Uniformen, in die man später zumindest die Jungen stecken wird. Es sind Gesichter von Gezeichneten, denen man gern Mitleid entgegenbringen möchte.
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