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Szene aus "Tenor overboard", einem Pasticcio mit Musik von Rossini.

© Foto Karli Cadel

Glimmerglass Opernfestival: Tenor über Bord

Das Glimmerglass Opernfestival im US-Bundesstaat New York bietet seit 1987 jeden Sommer außergewöhnliches Musiktheater.

Glimmerglass ist in John Fennimoore Coopers „Lederstrumpf“-Romanen ein geheimnisvoller Treffpunkt, am Otsega- See gelegen, weit abseits von den Großstädten New York und Boston. Heute ist es ein Treffpunkt für Opernfans. 1987 wurde dort eine Truthahnfarm in ein Musiktheater umgebaut, Sommer für Sommer gibt es seitdem vier Neuproduktionen: Ein Klassiker, eine Rarität, ein Musical und eine zeitgenössische amerikanische Oper. Begleitet wird das Festival vom renommierten „Young Artist Programm“, bei dem die Teilnehmer neben ihren master classes auch in kleineren Rollen und im Chor beschäftigt sind, manchmal sogar für Hauptrollen einspringen.

Francesca Zambello, hauptberuflich Intendantin der Washington Oper, hat das Festival 12 Jahre geleitet und gestaltet jetzt ihre letzte Spielzeit. Sie setzt auf eine von Europa emanzipierte selbstbewusste amerikanische Operntradition. Artist in residence ist 2022 Denyce Graves, seit ihrem Rollendebüt 1995 an der MET die wohl bekannteste Carmen in USA. Jetzt aber steht die schwarze Sängerin nicht auf der Bühne, sondern hinter dem Regiepult: Bizets Evergreen ist in ihrer Inszenierung vor allem eine Auseinandersetzung zwischen Polizisten und schmuggelnden Einwanderern.

Denyce Graves inszeniert "Carmen"

Meist übergriffigen Machos stehen zudem zwei schwarze Frauen gegenüber, Michaela (Symone Harcum), die sich schnell einschüchtern lässt, und die selbstbewusste Carmen (Brian Hunter). Ian Konzir ist ein verklemmter, selbstunsicher Don Jose. Im Vorspiel trägt er ein Priestergewand an, als wolle er Carmen den Teufel austreiben, bevor er sie tötet, zeigt er ihr die Bibel.

Als Prequel zu dieser „Carmen“ kann man „The Passion of Cardwell Dawson“ von Sandra Seaton sehen. Geehrt wird darin - gespielt und gesungen von Denyce Graves – die auch in den USA vielfach vergessene Gründerin der „The Negro Opera Company“, die sich kämpferisch um Aufführungen ihrer Truppe bemühte und dabei gegen die Rassentrennung im Publikum kämpfte „The Passion“ zeigt Dawson 1943 bei Proben für eine „Carmen“- Aufführung in Washington, wobei sie sich gleichzeitig am Telefon gegen bürokratische Auflagen und polizeiliche Verfügungen zu wehren versucht.

Mit Rossini-Melodien aufs Kreuzfahrtschiff

Statt mit einer Rarität verabschiedet sich Francesca Zambello 2022 mit einem Pasticchio: „Tenor Overboard“. Zu Musiknummern von Rossini (von „La Scala di Seta“ bis zu seinen „soireés musicales“) hat sie sich von Ken Ludwig ein Libretto schreiben lassen, das an eine schrille Screwball-Komödie erinnert. Vor dem Vater, einem Hot-Dog-Verkäufer in „Little Italy“, flieht die Tochter mit ihrer Freundin auf ein Kreuzfahrtschiff, wo sie auf eine Sängergruppe „The Singing Sicilians“ und einen etwas verrückten Filmstar stoßen. Um mitmachen zu können, verkleiden sie sich als Männer. Für Rossini, der ja oft alte Arien für neue Werke recyclete, ist ein Pasticcio durchaus ein angemessenes Verfahren, die jungen Sängerinnen und Sänger können sich mit Bravourarien beweisen, und das Glimmerglass Festival Orchester unter Joseph Colonari beeindruckt mit Energie und Witz.

Die zeitgenössische Oper ist lebendig in den USA

„Taking up Serpents“ von Kamala Sakara wurde 2018 in Washington uraufgeführt und ist jetzt in Glimmerglass zu erleben: Erinnerungen und Ängste einer jungen Frau, die durch ihren Vater, einen gewalttätiger Trinker, später dann Prediger, traumatisiert ist und ihre Familie verlässt. Als der Vater im Sterben liegt, fährt sie zu ihm. „Schlangen mit Händen zu fassen“ bezieht sich auf eine Bibelstelle und ist eines der Rituale des Predigers, dessen Auftritte musikalische Höhepunkte der Komposition sind.

Den humorvollen Kontrast zu dem Einakter bildet „Holy Ground“ von Damien Geter: Vier Erzengel sind auf der Suche nach Maria, der Mutter Jesus. Verzweifelt surfen sie nach einer geeigneten Kandidatin, bis sie der noch junge Engel Cherubiel besucht: eine Frau voller Selbstzweifel, stets im Streit mit ihrer Mutter über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Die neue Maria ist gefunden. Und die zeitgenössische US-Oper ist weiterhin lebendig.

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