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Thikwa-Mitglieder bereiten das neue Stück vor. Nicole Hummel und Gerd Hartmann (vorn) leiten das Theater.

© Mike Wolff

Theater Thikwa feiert 25. Geburtstag: Von Aleppo bis ins All

Das Theater Thikwa zeigt zu seinem 25. Geburtstag einen Performance-Parcours über Flucht und Heimat. Ein Probenbesuch.

Im ersten Zelt spielen sie gerade das „Woher kommst du?“-Spiel. Der Reihe nach stellen sich die Performer vor, als Österreicher, Mazedonierin, Grieche, Türkin. Dann ist André dran. André fällt das Sprechen nicht leicht, aber er bringt doch klar verständlich das Wort „Aleppo“ über die Lippen. Aleppo? „Watt?“, rufen die anderen verständnislos im Chor. Und lachen, als hätten sie noch nie einen besseren Witz gehört. Ein durchaus irritierender Moment. Regisseur Dominik Bender unterbricht die Szene und gibt ein paar Anweisungen zu Timing und Belustigungsgrad. Aber insgesamt gefällt ihm schon ganz gut, was er sieht. Also alles noch mal auf Anfang. Und weiter geht’s mit Suche nach Heimat.

Probenbesuch im Theater Thikwa. Im großen Saal der Spielstätte an der Kreuzberger Fidicinstraße sind fünf weiße Zelte aufgebaut, die Sorte, die man sich auf die Wiese stellt, wenn es draußen zu nass zum Trinken ist. Hier entsteht „Homescape – Thikwas Zeltstadt“. Ein Projekt, das erstmals alle Mitglieder des Ensembles gleichzeitig auf die Bühne bringt – immerhin über 40 Künstlerinnen und Künstler. In parallelen, zehnminütigen Performances, die als Parcours nacheinander besucht werden, spüren sie der Frage nach, was Zuhause bedeutet.

Thikwa ist provokativ, experimentierwütig und jedes Mal überraschend

Eine theatrale Odyssee, die von Flucht erzählt, weil die Zelte ihre Unschuld verloren haben – aber die auch weit darüber hinaus führt. Bis ins All zu den Aliens beispielsweise. „Homescape“ wird die Choreografie einer Geburtsstunde sein, einen Tanz zwischen Fremd- und Vertrautheit entfesseln, ein hintergründiges Spiel mit Drinnen und Draußen sein. Und im Foyer des Hauses warten noch Solozelte, wo zum Beispiel Thikwa-Urgestein Peter Pankow seinen Kassettenkoffer auspackt und Heimatlieder zwischen AnnenMayKantereit und Schlagerschnulze spielt.

Der Anlass für dieses kollektive Nomadisieren durchs eigene Haus ist dabei ein höchst erfreulicher. Theater Thikwa feiert in den kommenden vier Monaten seinen 25. Geburtstag. „Das Besondere an unserem Theater sind ja die Performer“, sagt der Theaterleiter Gerd Hartmann. „Und die wollten wir zum Auftakt unserer Jubiläumsreihe in einem besonderen Format auf der Bühne sehen“. Wobei man natürlich dazu sagen muss: Gewöhnlich gibt’s bei Thikwa sowieso nicht.

Das inklusive Theater, in dem behinderte und nichtbehinderte Profis zusammen auf der Bühne stehen, ist zwar nicht das einzige seiner Art. Es gibt in Berlin noch Ramba Zamba, in Bremen Blaumeier, in Zürich die Kollegen vom Theater Hora, und im gesamten deutschsprachigen Raum etliche ähnlich arbeitende Gruppen. Aber Thikwa (nach dem hebräischen Wort für Hoffnung benannt) fällt auch innerhalb der eigenen Szene aus dem Rahmen. Wenn Ramba Zamba das Berliner Ensemble des inklusiven Theaters ist, dann ist Thikwa die Volksbühne. Experimentierwütig, provokativ, grenzsprengend, garantiert jedes Mal überraschend.

Vor 25 Jahren wurde ernsthaft noch diskutiert, ob Menschen mit geistiger Behinderung "kunstfähig" seien

Mit der Produktion „Kaspar Hauser – Im Stehen sitzt man besser“ fing vor 25 Jahren alles an. Christine Vogt war damals die Initiatorin des Thikwa-Unternehmens, Gerd Hartmann sah die Geburtsstunde noch als Theaterkritiker – und war hingerissen. Was da stattfand, war ein absolutes Novum. Berliner Größen wie Adriana Altaras, zusammen mit behinderten Künstlern auf der Bühne. Klar, räumt Hartmann ein, begebe man sich schnell in Klischee-Nähe, wenn man die Authentizität und Wahrhaftigkeit der behinderten Spieler preise. Andererseits: so ist es nun mal. Aus keinem anderen Grund hat ein Christoph Schlingensief seine „Freakstars“ gegründet.

Regisseur Hartmann inszenierte 1993 sein erstes Thikwa-Stück, „Da hat der Topf ein Loch“, nach Texten von Gertrude Stein. Unter anderem trug darin eine Schauspielerin mit Down-Syndrom einen riesigen Hut, der mit echten Früchten gespickt war. Woraufhin gleich besorgte Stimmen riefen, „dass man behinderte Menschen doch nicht so anziehen dürfe, weil man sie damit vorführen würde“, erinnert sich Hartmann. Aber damals wurde ja auch allen Ernstes noch diskutiert, ob Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt „kunstfähig“ sein könnten. Heute – nicht zuletzt dank Thikwa – eine Diskussion, die sich erledigt hat. An der Fidicinstraße haben sie auch das Modell erfunden, dass es den Performern erlaubt, als Beschäftigte einer angeschlossenen Werkstatt hauptberuflich Künstler zu sein. Ein Pionierunternehmen, in jeder Hinsicht.

Trotzdem, Bedenken sind fast immer mit im Raum, wenn behinderte Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne stehen. Nicole Hummel, seit zehn Jahren künstlerische Leiterin des Theaters, findet, „dass es immer noch viel zu viele Hemmungen gibt“. Aufseiten der Zuschauer, wohlgemerkt. Sie denkt an Produktionen wie „Sturzflug“ oder „Vertauschte Zungen“, die das Publikum vor die Frage stellten: Darf man über behinderte Menschen auf der Bühne lachen? Obwohl die Performer ganz klar mit der Provokation spielten. Aber die Ironiefähigkeit, das weiß auch Gerd Hartmann, wird behinderten Künstlerinnen und Künstlern ja gern mal paternalistisch abgesprochen.

Am Anfang wurde das Projekt von vielen nicht ernstgenommen

Die Thikwas geben darauf die einzig richtige Antwort: verstörend gute Kunst. Wie die bahnbrechende Arbeit „Dschingis Khan“, die zusammen mit der Performance-Gruppe Monster Truck entstand. Darin agieren Menschen mit Down-Syndrom – diskriminierend ja „Mongos“ genannt – als Mongolen in einer wüst überzeichneten, ironisch gebrochenen Völkerschau. Die Folge-Produktion „Regie“ spannte den Bogen noch weiter und ließ die Performer erfreulich schamfrei (und offensichtlich satirisch) ihre sexuellen Fantasien ausbreiten. Dass in beiden Fällen eine Flut von Darf-man-das?-Schnappatmer folgten, war das einzig Konventionelle an den Projekten.

Dafür, erzählt Gerd Hartmann, muss sich Thikwa schon längst keine Sorgen mehr machen, prominente Kollegen zu gewinnen. Dahinter stehe auch kein karitativer Gedanke, stellt Hartmann klar, sondern echte Neugier: „Was passiert für mich als Künstler, wenn ich mit diesen Performern arbeite?“ Angela Schubert hat schon an der Fidicinstraße gearbeitet, Modjgan Hashemian, Anne Tismer. Die steht im Oktober auch in der Regie von Nicole Hummel zusammen mit Thikwa-Performerin Corinna Heidepriem im Porträtstück „Zwillinge“ auf der Bühne.

Auch international ist Thikwa bestens vernetzt. Im November holt Gerd Hartmann das inklusive Moskauer Theaterstudio Kroog II für eine Koproduktion nach Berlin, mit dem er in Moskau schon gearbeitet – und den bedeutenden Theaterpreis „Goldene Maske“ gewonnen hat. „Am Anfang wurde unsere Arbeit von vielen nicht ernst genommen, sondern als sozialtherapeutisches Projekt abgetan“, erzählt Hartmann. „Dann kam dieser Ritterschlag und plötzlich war es offiziell Kunst“. Aber das kennen sie bei Thikwa ja aus der eigenen Geschichte. Heute nennen sie ihre bis Dezember laufende Jubiläumsreihe mit gewohnter Provokationslust „Bereichert euch!“ Und es stimmt: Aus diesem Theater geht man garantiert reicher raus, als man reingegangen ist.

„Homescape – Thikwas Zeltstadt“: 31.8. 20 Uhr (Premiere), 1.–3., 7.–10. u. 14.–17.9.

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