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Gastland Argentinien: Tiger springen durch die Träume

Tango, Fußball, Rindfleisch – und jede Menge Literatur: ein Streifzug durch die argentinischen Titel zur Frankfurter Buchmesse.

Der südamerikanische Kontinent feiert dieses Jahr in weiten Teilen das 200. Jubiläum seiner Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft. Auch Argentinien feiert seinen bicentenario, was man in Deutschland vielleicht gar nicht gemerkt hätte, wenn die Frankfurter Buchmesse nicht alle Aufmerksamkeit auf ihr diesjähriges Gastland richten würde.

Wie ernst die argentinische Regierung dieses Ereignis nimmt, zeigt die Tatsache, dass eine erfahrene Kulturmanagerin zur Ministerin ernannt und mit der Vorbereitung betraut wurde. In der Tat liefert die Buchmesse einen guten Überblick über die Kultur des Landes, das so gern seine Nähe zu Europa betont, woher viele seiner Einwanderer stammen, die längst Argentinier sind. Argentinien ist eine Nation mit lange vorbildlichem (Hoch-)Schulsystem, mit der zwiespältigen Geschichte des Peronismus und blutigen Militärherrschaften, mit jener Finanzkrise von 2001, dem Vorboten „unserer“ Krisen. Und natürlich das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Verzehr an Rindfleisch, Kultstätte des Tangos und des Fußballs.

Argentinien hat besonders in den letzten 90 Jahren eine herausragende, vielseitige und engagierte Literatur hervorgebracht. Das zentrale Thema der Gegenwart ist dabei die Militärdiktatur (1976-1983), wobei die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ als Vorbild der Auseinandersetzung dient. Die euphemistisch als desaparecidos bezeichneten, von den Schergen des Regimes verschleppten Menschen und deren von regimetreuen Familien adoptierte Kinder sind ein kardinales Thema auch der Fiktion.

Der Identitätskonflikt eines entführten Kindes wurde schon vor Jahren in Elsa Osorios „Mein Name ist Luz“ (Insel) behandelt. Nun schildert die junge Parlamentsabgeordnete Victoria Donda in „Mein Name ist Victoria“ (Knaur) das Schicksal einer jungen Frau, die sich in einer Vermissten-Organisation engagiert und feststellt, dass sie selbst „eine Andere“ ist und eigentlich Analía heißt. Der DNA-Test liefert eine nicht immer geliebte Familie. Einige Fotos und der Hinweis, dass „einige Namen“ geändert seien, verweisen auf den dokumentarischen Charakter dieses Buches.

Ganz undokumentarisch wird die Vergangenheit im Genre des Krimis verarbeitet, etwa in Maria Teresa Andruettos „Wer war Eva Mondino?“ (Rotpunktverlag), einem Roman über eine gefolterte Frau, dessen Stil eine juristische Untersuchung imitiert. Einen Rückblick auf die 1970er Jahre, als die Träume der 68er Generation von einer besseren Welt jäh durch die Diktatur beendet wurden, und die direkte Auseinandersetzung mit den Tätern von einst liefert Martín Caparrós’ „Wir haben uns geirrt“ (Berlin Verlag). Postdiktatorial ist auch Leopoldo Brizuelas „Nacht über Lissabon“ (Insel), in dem das Schicksal europäischer Juden geschildert wird, die vor den Nazis nach Lissabon geflohen sind.

Neben der Vergangenheit ist die moderne Lebenswelt von Buenos Aires zentrales Thema aktuellen Erzählens. Unter den drei Romanen von César Aira, von den „Gespenster“ gerade bei Ullstein erschienen ist, lohnt es sich insbesondere „Die Nächte von Flores“ (Claassen) hervorzuheben, einen Stadtroman im Lokalkolorit des „besseren“ Viertels Flores, das hier im Zeichen jener Krise steht, die vor Jahren auch die Mittelklasse in größte Probleme stürzte.

Im einst und wieder jüdisch geprägten Stadtteil Once ist der erste hierzulande publizierte Roman des jungen Autors Ariel Magnus angesiedelt, „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ (Kiepenheuer & Witsch), der hinter einer wilden Handlung mit Brandstiftung und Geiselnahme eine humorvolle und tiefgründige Skizze der multikulturellen Metropole entwirft. Leider liegt Magnus’ wunderbarstes Buch nicht auf Deutsch vor, der wahre Bericht seiner aus Elberfeld stammenden Großmutter, welche eine Fahrkarte nach Auschwitz erstand, um ihre Mutter zu besuchen („La abuela“, Planeta).

Halten wir uns also an die Vertreter der zwischen 1920 und 1970 anzusetzenden klassischen Moderne. Von Borges, der mit seiner postmodernen Phantastik vor einem halben Jahrhundert als argentinischer Kafka in die deutschen Bücherregale einzog, werden nun wichtige Essays publiziert („Ein ewiger Traum“, Hanser) sowie modernistische Gedichte als Buch und CD („Ausencia/Abwesenheit“ im Frühling Verlag). In der Edition Klaus Raasch gibt es, auch auf Bütten, eine mit Holzschnitten veredelte bibliophile Ausgabe seiner „Dreamtigers“.

Suhrkamp bringt Taschenbuchausgaben von Julio Cortázars „Rayuela – Himmel und Hölle“, einem Klassiker des Experimentalromans schlechthin, und des Erzählbandes „Rückkehr aus der Nacht“ heraus. Auch wurde ein schmaler Band übersetzt, den die Lateinamerikanisten als den ersten Diktatorenroman kennen – Auftakt eines bis heute in Südamerika florierenden Genres. Diese mit biblischen Metaphern gespickte Novelle von Esteban Echevarría, „Der Schlachthof“ (Lux Verlag), entstand vor 160 Jahren unter J. M. Rosas’ Diktatur.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts luden argentinische Regierende – übrigens aus rassistischen Gründen, nämlich zur Stärkung „weißer“ Bevölkerungsanteile – europäische Juden zum Siedeln in der Pampa ein. Davon legt ein lebhafter Bericht voller Humor und Hoffnung Zeugnis ab, der nun, ein Jahrhundert nach seiner Entstehung, auf Deutsch vorliegt: Alberto Gerchunoffs „Jüdische Gauchos“ (Hentrich & Hentrich). Als Klassiker der Gegenwart gilt der jüngst verstorbene Tomás Eloy Martínez, dessen ironisch verzerrte Evita-Biographie „Santa Evita“ (Suhrkamp)den einbalsamierten Leichnam der First Lady gleich in mehreren Exemplaren auf eine wilde Odyssee schickt.

Natürlich bietet der Schwerpunkt auch für diejenigen Leckerbissen, die sich primär für Sport und Tango interessieren. So kann man, nach dem 4:0-Sieg der deutschen Mannschaft über Argentinien vor einigen Monaten, auch in deutscher Sprache Pablo Alabarces’ Einlassungen zum Fußball als Element der nationalen Selbstdefinition lesen („Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation“, Suhrkamp). Jeder Deutsche in Buenos Aires besucht die Plaza Dorrego, das Herz der Tango-Gemeinde in San Telmo, oder wagt sich zu einer milonga, wie die volkstümlichen Tango-Treffen heißen. Auf Deutsch liegt nun Horacio Salas’ Tango-Klassiker „Tango – Wehmut, die man tanzen kann“ (C. Bertelsmann) vor, auch wenn man sich besser Edgardo Cozarinskys tiefgründigen, leider nur auf Spanisch erhältlichen Essays „Milongas“ (Edhasa) hingeben sollte.

Seit einigen Jahren bringt das mobile lateinamerikanische Poesiefestival „Latinale“ einem wachsenden Publikum zwischen Köln, Hamburg und Berlin die Lyrik von Mexiko bis Feuerland nahe – dieses Jahr vom 6. bis 12. November (www.latinale.de). Die Buchmesse ermöglicht es, argentinische Dichtung nun auch gedruckt zu präsentieren, so „Mundar – Welteln“ (Edition Delta), Gedichte des Cervantes-Preisträgers Juan Gelman, aber auch Fabián Casas’ Großstadtgedichte „Mitten in der Nacht“ (Lux Verlag) oder die melancholische Poesie von Héctor Dante Cincotta in der Edition Virgines, „Das Alter der Wolken“. Manche originelle Erzählung wäre ohne die Buchmesse sicher unübersetzt geblieben, etwa Adrián Pais’ postmodern-philosophische Sicht aufs Berlin der 1990er Jahre in dem Band „In die Wolken“ (Schiler Verlag), mit Diskotheken und Schwulenbars: ein Text, der durch „Dateien“ strukturiert wird, die unter bestimmten Namen gespeichert, geöffnet und weitergeführt werden.

Ein ganz anderes Beiprodukt der Messe ist Renate Krolls akribische Biographie der weltgewandten Grande Dame der argentinischen Kultur, Victoria Ocampo, welche die Intellektuellen der Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts um sich scharte („Mein Werk ist mein Leben“, Aufbau Verlag). Zuletzt sei auf zwei Anthologien verwiesen, die Michi Strausfeld, eine der besten Kennerinnen hispanischer Literatur, besorgt hat: ein Rückblick auf die „klassischen“ Autoren, „Der Vorabend aller Pracht“, der als Band 238 der Zeitschrift „die horen“ erschienen ist, sowie ein gelungener Querschnitt durch die Literaturproduktion der Gegenwart („Schiffe aus Feuer“) im S. Fischer Verlag.

Der Autor lehrt spanische und lateinamerikanische Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Am 27. Oktober, 19 Uhr, nimmt er im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin am „Lateinamerikanischen literarischen Terzett“ zum Thema Argentinien teil.

Dieter Ingenschay

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