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Moderne Hobos. Die 13-jährige Tom (Thomasin McKenzie) lebt mit ihrem Vater im Wald.

© Sony Pictures

„Leave No Trace“ im Kino: Über Leben in Amerika

Zivilisation und Wildnis als gleichwertige Lebensmodelle: Debra Graniks Film „Leave No Trace“ erzählt von Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz finden.

Von Andreas Busche

Unsichtbarkeit ist auch eine Überlebensstrategie. Ein Vater und seine Tochter spielen im Wald Verstecken, aber das vermeintliche Spiel entpuppt sich bald als Drill – für den Ernstfall. „Deine Socken haben dich verraten“, ermahnt Will (Ben Foster) seine 13-jährige Tochter Tom (Thomasin McKenzie), nachdem er sie im wuchernden, tiefgrünen Unterholz aufgespürt hat. Nächster Versuch. „Pass diesmal besser auf!“ Es geht darum, zu verschwinden, mit der Umwelt eins zu werden. So hat es Will im Irak gelernt, es hat ihm den Hals gerettet. Zurück aus dem Krieg kann er nicht mehr anders. Nach dem Tod seiner Frau ist Tom der einzige Mensch, der für Will noch existiert.

Debra Graniks dritter Spielfilm „Leave No Trace“ handelt vom langsamen Verschwinden aus der Gesellschaft inmitten einer der reichsten Industrienationen. Im Grunde drehen sich alle Filme Graniks ums Leben an der Peripherie: Vera Farmigas drogenabhängige Mutter in „Down to the Bone“ (2004), die Sucht und Familienleben vereinbaren muss. Jennifer Lawrence in „Winter’s Bone“ (2010), die in den Wäldern von Missouri ihren Vater sucht und sich allein gegen das Drogenkartell eines Hillbilly-Clans stellt.

Jetzt also Thomasin McKenzie, die noch etwas jünger ist als Lawrence in ihrer ersten großen Rolle. Auch Tom lebt mit ihrem Vater außerhalb der Zivilisation, in einem Zelt. Die Konserven, die sie einmal pro Woche in der nahegelegenen Kleinstadt besorgen, werden in Löchern im Waldboden gelagert. Die wichtigsten Habseligkeiten befinden sich in Reichweite, für den Fall, dass die beiden entdeckt werden und sie ihr Lager überstürzt verlassen müssen. Mit jedem Film hat sich Debra Granik weiter von der Gesellschaft entfernt, doch ihre Milieustudien dringen immer tiefer in das Herz Amerikas vor.

Allianzen mit anderen Gruppierungen von Außenseitern

„Leave No Trace“, in dem es – so der Titel – darum geht, die Spuren zu verwischen, um auch die letzten Verbindungen zur Zivilisation zu kappen, ist Graniks bisher bester Film. Sie erweist sich nach dem Hinterwäldler-Drogenthriller „Winter’s Bone“ als souverän genug, ganz auf das Prisma eines Genres, durch das sie auf einen Ausschnitt der amerikanischen Gesellschaft blickt, zu verzichten.

„Leave No Trace“ hat solche Suspense-Elemente nicht mehr nötig, Spannung bezieht der Film aus ihren Beobachtungen, der Perspektive vom gesellschaftlichen Rand. Familie fungiert wie schon in „Winter’s Bone“ als emotionales Band, doch die solidarischen Allianzen verlaufen diesmal quer durch alle Gruppierungen von Außenseitern.

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Die meisten haben ihren Platz nicht freiwillig gewählt. Die Kriegsveteranen etwa, die nach dem Einsatz nicht mehr resozialisierbar waren. Sie leben in Zeltsiedlungen tief in den Nationalparks im Nordwesten der USA, wo bis zum Boom von Amazon die Holzindustrie der wichtigste Arbeitgeber war. Ab und zu planiert die Parkbehörde die illegalen Siedlungen mit Baggern, dann zieht der Treck der Obdachlosen weiter. Will verkauft an die traumatisierten Soldaten seine Ration Schmerzmittel. Alle sind vom Krieg gezeichnet.

Aber es gibt auch die, die sich aus freien Stücken für die Wildnis entschieden haben, eine eigenbrötlerische Mischung aus Rednecks und Hippies. Will und Tom finden auf ihrer Flucht vor den Behörden in einer autarken Wohnwagensiedlung Unterschlupf; der Arzt der Enklave, ebenfalls Ex-Army, kümmert sich um Wills verletztes Bein. Granik stellt die Option von Zivilisation oder Wildnis nie infrage, beides betrachtet sie in „Leave No Trace“ als gleichwertige Lebensmodelle. Dass Will nicht in die Gesellschaft zurück kann (nachts wacht er schweißgebadet vom Rattern der Rotorblätter auf), erkennt die Regisseurin ebenso an wie Toms wachsenden Wunsch nach etwas, das sie in ihrem kurzen Leben bisher nicht kennt: einem Gefühl von Heimat.

Thomasin McKenzie hat das Zeug zum Star

Granik erzählt den schmerzhaften Abnabelungsprozess des Mädchens als Coming-of-Age-Geschichte. Tom versteht, dass sie ihren Vater nicht halten kann. Er hat ihr das Überleben beigebracht, aber jetzt will sie endlich auch anfangen zu leben. „Du passt dich schon an“, meint Will einmal zu ihr, als das Jugendamt Vater und Tochter kurzzeitig in einer sozialen Einrichtung unterbringt, mit allen Annehmlichkeiten wie einem Bett und fließendem Wasser. Es klingt aus seinem Mund wie ein Vorwurf.

Kaum eine amerikanische Filmemacherin versteht es so gut wie Debra Granik, aus solchen fein austarierten zwischenmenschlichen Beziehungen komplexe gesellschaftliche Beobachtungen herauszuarbeiten. „Leave No Trace“ beschreibt mit ihrer wunderschön eloquenten Bildsprache Mikromilieus, aber implizit eben auch dieses andere Amerika: die Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr finden, beziehungsweise gar nicht mehr finden wollen. Sowie die nächste Generation, die die Desillusion der Eltern schon mit einem hoffnungsvollen Blick pariert.

Diese Hoffnung verkörpert Thomasin McKenzie, die wie Jennifer Lawrence das Zeug zum Star hat. Granik beweist erneut ein untrügliches Gespür für die verletzliche Stärke ihrer Darstellerinnen. Vielleicht versteht sie darum auch dieses selbstzerstörerische Monster Amerika besser als alle anderen.

In den Berliner Kinos Cinemaxx Potsdamer Platz, Cinestar Treptower Park, CineStar Cubix, UCI Colosseum OV: Cinestar Sony Center, Rollberg, OmU: Central, Delphi Lux, Kulturbrauerei, Wolf

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