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Holger Bülow und Dmytro Oliinyk in Stas Zhyrkovs und Pavlo Aries Schaubühneninszenierung „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“

© Gianmarco Bresadola

Ukrainische Regisseure an der Schaubühne: Stepptanz unter der Schutzweste

„Sich waffnend gegen eine See von Plagen“: Stas Zhyrkov und Pavlo Arie erzählen an der Schaubühne vom Wahnsinn des Krieges.

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Lars Eidinger spielt nicht mehr. Die Hamlet-Krone hat er an den Nagel gehängt, weil das „Sein oder Nichtsein?“ plötzlich kein Bühnentext mehr war, sondern tatsächlich eine Existenzfrage. Für das Land und sein eigenes Leben. Der Schauspieler kämpft jetzt an der Front, ausgerüstet mit einem Gewehr, das kein Requisit ist. „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“, wie es bei Shakespeare heißt.

Klingt nach einem schlechten Scherz, auf jeden Fall: unvorstellbar? Ja, hierzulande vielleicht. In Kyiv ist es Realität, dass Künstler:innen ihrem Beruf den Rücken kehren, um in den Krieg zu ziehen. Wie einige der Schauspieler:innen und Mitarbeiter:innen aus anderen Gewerken des Left Bank Theatre, das zu den renommiertesten Bühnen in der Ukraine zählt.

Im März 2022 Jahres hätte an dem Haus eine „Hamlet“-Premiere in der Regie von Tamara Trunova angestanden, die Plakate waren schon gedruckt. Sie zeigten den Dänen-Prinzen in der U-Bahn – dort also, wo nach Beginn der russischen Invasion die Bürger:innen von Kyiv Schutz gesucht haben. „Manchmal schaut Kunst in die Zukunft“, sagt Stas Zhyrkov, der zusammen mit Trunova das Left Bank Theatre leitet.

Zhyrkov, der sich am 24. Februar wegen einer Produktion in Vilnius befand und von einem Tag auf den anderen kein Haus mehr hatte, will ebenfalls kämpfen. Allerdings an der Kulturfront. Es geht um Aufklärung, darum, die Situation der Ukraine im Bewusstsein der Menschen zu halten. Seit 2014 ist der Krieg im Donbass immer wieder Thema von Zhyrkovs Inszenierungen gewesen, „aber in dem Moment, wo sie deine Stadt bombardieren, verstehst du: es war nicht genug“.

Jetzt ist an der Schaubühne das Projekt „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ zur Premiere gekommen, (nächste Vorstellungen: „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“, 12.9., 20 Uhr, 14. - 16.10.; „Stories from Exile“: ab 16.9. im Berliner Ensemble), das Zhyrkow zusammen mit Pavlo Arie entwickelt hat, dem Chefdramaturgen des Left Bank Theatre.

Arie hat sein Tagebuch aus den ersten Tagen der russischen Invasion dafür zur Verfügung gestellt. „Ich liege nur da, den ganzen Tag über, den Abend und die Nacht. Es ist mir egal, dass es Luftalarm gibt, die neue Realität betäubt mich von innen“, heißt es an einer Stelle. Im Zentrum aber stehen jene Kolleg:innen, deren Alltag jetzt der Schützengraben ist, nicht mehr die Probebühne. Das Schicksal von manchen ist mittlerweile ungewiss.

Genügt es, was wir tun?, fragen sich die Theatermacher

Rund zehn Interviews haben Zhyrkov und Arie geführt und eine handvoll davon zu schlaglichtartigen Erzählungen vom Wahnsinn des Krieges verdichtet. Das Stück soll nicht einfach dokumentarisch sein, sagt Arie. Was er sich wünscht, ist ein „Theater der Zeugen“. Einer der Interviewten, Wowa Kovbel, bekennt einmal: „Keine Angst habe nur Dumme und Verrückte… oder Tote. Wenn du nur hören könntest, wie das Herz unter der Schutzweste einen Stepptanz macht“.

Zwei Schauspieler des Left Bank Theatre – Oleh Stefan und Dmytro Oliinyk – sowie Holger Bülow aus dem Ensemble der Schaubühne beleben diese Berichte im Saal C, dem Globe Theatre. Gesprochen wird Ukrainisch und Deutsch, jeweils in der anderen Sprache übertitelt. Ein Arbeitstisch voller Filmrollen und Lampen ist aufgebaut, im Hintergrund eine Leinwand, über die eine Fahrt von Soldaten durch seltsam sonnige Felder flimmert, oder das Facebook-Video eines Puppenspielers aus Charkiw projiziert wird, der einen zerbombten russischen Panzer inspiziert. Auch die Biographien der Schauspieler auf der Bühne fließen ein, ihre Familiengeschichten.

Szene aus der Schaubühneninszenierung „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie.

© Gianmarco Bresadola

Stückentwicklungen, Rechercheprojekte – das ist die Art Kunst, die Regisseur Stas Zhyrkov auch in Kyiv gemacht hat, erst am Golden Gate Theatre, ab 2019 als künstlerischer Leiter des Left Bank Theatre. „The Class" etwa thematisierte das Mobbing an Schulen, in der Ukraine ein großes Problem – und für Zhyrkov Anlass, über die Gewaltverhältnisse auch zwischen Ländern zu erzählen. Ein anderes Projekt verhandelte auf der Folie von Shakespeares „Othello“ das Phänomen von Hatespeech im Netz - wofür die damalige ukrainische Gesundheitsministerin Ulana Suprun Patin stand, die lange in den USA gelebt hatte. Und im eigenen Land als Fremde angefeindet wurde.

Pavlo Arie kuratiert auch die Reihe „Stories from Exile“

Das Left Bank Theatre ist international vernetzt, ein junges, spannendes Haus. Im Sommer wurde eine Europatournee mit der Produktion „Bad Roads“ gestartet, die auch schon am Deutschen Theater beim Festival „Radar Ost“ zu sehen war. Gemeinsam mit dessen Kuratorin Birgit Lengers hat Zhyrkov eine Initiative gestartet, die ukranischen Künstler:innen die Arbeit an deutschsprachigen Kulturinstitutionen ermöglichen soll, über 70 Häuser schlossen sich sofort an. Mit der „Bad Roads“-Tour wurden 60 000 Euro gesammelt und gespendet, um Ausrüstung für die eigenen Leute im Krieg anzuschaffen, um ein Auto für ein Bataillon zu kaufen. Alles Teil des Kampfes an der Kulturfront.

Genügt es, was wir tun? Diese Frage hängt auch über „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“. Die Schaubühne hat diese von der Dramaturgin Maja Zade begleitete Produktion sehr spontan möglich gemacht. Nach einem Treffen zwischen Thomas Ostermeier und Stas Zhyrkov, bei dem der Schaubühnen-Leiter nur generell ausloten wollte, wie er ukrainische Theatermacher:innen unterstützen könnte. Was sich ja viele Theater gegenwärtig auf die Fahne geschrieben haben.

Pavlo Arie, der lange in Deutschland gelebt und Arbeitsbeziehungen mit verschiedenen Häusern wie dem DT geknüpft hat, wird jetzt am Berliner Ensemble eine auf mehrere Monate angelegte Salonreihe kuratieren, „Stories from Exile“. Künstler:innen aus der Ukraine lädt er ein, aber auch aus China, Afghanistan, Russland. Sie werden ihr je eigenes Exil erfahrbar machen.

„Alle unsere Pläne können von einer Sekunde auf die andere zunichte gemacht werden“. Das ist Aries Erkenntnis aus dem russischen Angriffskrieg. In „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ – von Zhyrkov eindringlich, frei von Pathos inszeniert und mit Standing Ovations gefeiert – lässt die Zerrissenheit derer spüren, die sich gegen den Kampf im Schützengraben entschieden haben. Die Kluft zwischen denen, die jetzt „Helden“ genannt und als Verteidiger:innen des Landes gefeiert werden – und den anderen.

„Theater? Ich denke oft ans Theater“. Das sagt in dem Stück der Schauspieler Wowa Krawtschuk, heute MG-Schütze. „Hab mir neulich Fotos angeschaut, von meiner Wohnung, dem Theater… Es war so, als würde ich Fotos aus einem fremden Leben betrachten“.

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