
© Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegestagebuch (150): Igor macht keine neuen Krim-Fotos mehr
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
5.7.2023
Dirk-Martin Heinzelmann ist ein Berliner Fotograf, den ich lange kenne, aber zu selten treffe. Manchmal glaube ich, seine Ausstellungseröffnungen finden immer genau dann statt, wenn ich nicht in Berlin bin. Letzte Woche erhielt ich eine Nachricht von ihm: Er lud mich zu einem Vortrag von Igor Manko ein – und ich bin am kommenden Mittwoch ausnahmsweise in Berlin.
Obwohl Igor und ich uns persönlich nicht kannten, war mir sein Name natürlich ein Begriff, da ich mich seit Jahren für die Charkiwer Schule der Fotografie interessiere. Manko gehört zur zweiten Generation dieser Underground-Bewegung aus meiner Heimatstadt, die konsequent und kategorisch den sozialistischen Realismus ablehnte und für ihre innovativen, oft frechen und humorvollen Experimente bekannt ist.
Mit nichts als einem scharfen Auge und einer Kamera bewaffnet, sind diese Künstler*innen wahre Rebell*innen gewesen, die zur Zeit des restriktiven sowjetischen Regimes ihre Werke präsentieren durften. In den letzten Jahren finden Ausstellungen der Charkiwer Schule der Fotografie überall statt, und es sind zahlreiche Fotoalben mit ihren Bildern sowie Monografien über ihre Geschichte erschienen.
Ich kenne auch den Sohn von Igor, Eugene Manko – einen begabten Musiker, den Gründer von La Horsa Bianca, einer meiner Lieblingsbands aus Charkiw. Er war der einzige Instrumentalist, den ich eingeladen habe, bei den Aufnahmen unseres Albums „Fokstroty“ im Sommer 2021 mitzumachen, Eugene hat für uns Saxofon gespielt.
Von Charkiw nach Michendorf
Mir ist eingefallen, dass Serhij Zhadan und ich am Samstag bei einem Literaturfestival in Potsdam „Fokstroty“ performen. Ich habe Dirk-Martin nach Mankos E-Mail Adresse gefragt und ihm eine Nachricht geschickt, in der ich ihn zum Konzert eingeladen habe: „Wir kennen uns nicht, aber ich bin ein Fan Ihrer Arbeit und am Samstagabend wird im Potsdamer Waschhaus bei unserem Auftritt auch das Saxofon ihres Sohnes zu hören sein!“ „Prima, ich komme!“, antwortete Igor wenige Stunden später.
Und er war tatsächlich da, musste aber früher los, also haben wir uns in Potsdam verpasst, aber heute fahre ich nach Lichtenberg, um mir Mankos’ Vortrag anzuhören. In meinen ersten Jahren in Deutschland war ich häufig hier, weil die Züge in die Ukraine nur am Bahnhof Berlin-Lichtenberg halten. Daher hat dieser Ort seinen Platz in einigen meiner Songs gefunden. Die Giselastraße habe ich bis heute noch nicht gekannt. Manchmal bedarf es eines Fotografen aus Charkiw, der nach Berlin kommt, damit ich eine mir bisher unbekannte Ecke der Stadt, in der ich seit 27 Jahren lebe, erkunden kann.
Gisela – Freier Kunstraum Lichtenberg ist nur wenige Gehminuten von der Station Nöldnerplatz entfernt. Igor Manko raucht vorm Eingang. Ich bin extra etwas früher gekommen, um mir noch seine Ausstellung anzuschauen – „100 Views of Mt Karadag“, eine Fotoserie, für die Manko Sommer für Sommer auf der Krim immer neue Bilder gemacht hat. „Als ich damit begonnen habe, war ich fest davon überzeugt, dass ich bis zum Ende meines Lebens hierher kommen werde, aber es hat sich anders ergeben“, sagt Igor.
Charkiw hat Manko im Sommer 2022 verlassen. Er wohnte im Stadtzentrum, sein Kiez war seit dem Beginn des Großen Krieges bei den russischen Raketen besonders beliebt. Zuerst zog er nach Poltawa, später nach Deutschland. Zur Zeit ist er in Michendorf bei Potsdam untergekommen.
Der Vortrag findet im Rahmen einer wöchentlichen Reihe statt, die Igor jeden Mittwoch im Gisela abhält. Heute erzählt er über die Collagen seiner Charkiwer Kollegen. Boris Mikhailov, Victor Kochetov, Oleg Malevany, Evgeniy Pavlov – Manko projiziert ihre Werke auf die Leinwand und kommentiert sie in perfektem Englisch. Ich muss an die Dia-Abende denken, die meine Eltern in den frühen Achtzigern in unserem Wohnzimmer für Freunde und Familie organisiert haben.
Auf dem Rückweg notiere ich in meinem Kalender nächsten Mittwoch, den 12. Juli, 18 Uhr. Igor Manko hält seinen vierten Vortrag zur Charkiwer Schule der Fotografie. Ich werde dabei sein.
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