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Bilder von Opfern der Roten Khmer in einem Museum.

© IMAGO/Frank Bienewald

Ukrainisches Kriegstagebuch (109): Kambodscha im Ohr, die Heimat vor Augen

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

11.2.2023
Kaum habe ich an die Kraft der Vitamine geglaubt – meine Mutter hat mir neulich welche geschenkt – bin ich plötzlich wieder erkältet. Halsschmerzen, Schnupfen und Fieber – volles Programm. Ich bleibe im Bett mit einer Packung Taschentücher, meinem Rechner und einer Thermoskanne. Darin ist mit kochendem Wasser verdünnte Himbeermarmelade – das beste Mittel gegen Erkältung, sagt man bei uns. Mal schauen, ob es effektiver ist als Vitamine!

In einer der wenigen Ecken meines Facebook-Universums, wo es nicht um den russischen Krieg in der Ukraine geht, stoße ich auf ein Interview mit der Autorin eines neuen Buches über die kambodschanische Musik der 1960er und bestelle es mir sofort. Diese Musik entdeckte ich bereits vor über 20 Jahren – auf einer meiner Ukraine-Reisen in den späten 1990ern stieß ich auf die Kompilation „Cambodian Rocks”, die in einem Musikladen in Kiew im Hintergrund lief. Ich habe mich schon bei den ersten Tönen verliebt und die CD sofort gekauft.

Die 22 Songs erinnerten stark an den Sound, der in der zweiten Hälfte der 1960er international verbreitet und beliebt war – freche E-Gitarren, schräge Hammond-Orgel, alles etwas psychedelisch. Doch die kambodschanischen Acts hatten reichlich eigenen Senf dazu gegeben, sodass ihre Aufnahmen auch heute noch herausstechen und eigenartig klingen. Ich habe mich damals gewundert, dass auf der CD gar keine Infos abgedruckt waren, nicht mal die Songtitel oder Bandnamen.

Erst später habe ich über das endlos traurige Schicksal der Künstler*innen erfahren, die man auf „Cambodian Rocks“ hört: Fast alle wurden in der Herrschaftszeit der Roten Khmer umgebracht. Nicht nur ihre Musik war verboten, allein schon der Besitz von Schallplatten galt in Kambodscha als Verbrechen.

Im Interview erzählt die Autorin, man konnte dort auf den Straßen in den späten 1970ern oft Kinder sehen, die mit einer Platte anstatt einer Frisbeescheibe gespielt haben, in keinem Haushalt gab es mehr einen Plattenspieler. Die Kinder wussten nicht, was man sonst mit diesem kreisförmigen Gegenstand anfangen sollte. Mehr als zwei Millionen Menschenleben forderte der Genozid, den die Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 begangen haben.

Eine Stunde dauert das Interview, und die ganze Zeit kann ich nicht aufhören, an die Ukraine zu denken. Ich denke an meine Heimatstadt Charkiw und an die Szene der 1920er, die wenige Jahre später brutal ausradiert wurde, an die Generation der jungen talentierten Autor*innen und Theatermacher*innen, von denen kaum jemand ein hohes Lebensalter erreicht hat. Ich höre kambodschanischen Garage Rock und stelle mir dabei Majk Johansen vor, den ukrainischen Dichter, Prosaiker und Publizisten mit deutschen Wurzeln, der mit 42 bei den Massenhinrichtungen zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution exekutiert wurde (was für eine Art, ein Jubiläum zu feiern!).

Ich erinnere mich an den 1934 erschossenen Futuristen Oleksa Wlyzko und an Walerjan Pidmohylnyj, dessen 1928 geschriebener Roman „Die Stadt“ vergangenes Jahr endlich auf Deutsch erschien und von den Kritikern gefeiert wurde. Neben Dutzenden anderen ukrainischen Kulturakteuren wurde er 1937 in russischen Sandarmoch erschossen. Paarweise hat man sie aufgestellt, von Angesicht zu Angesicht, und konnte so mit einer Kugel gleich zwei Menschen töten.

Ich denke an die Musiker*innen und Autor*innen, an den Theater- und Filmemacher*innen der heutigen Ukraine, die das Land nicht verlassen haben. Manche von ihnen kämpfen gerade an der Front. Sie werden diesen Krieg gewinnen und werden dann neue Bücher schreiben, neue Filme drehen und neue Songs aufnehmen. Sie werden noch lange leben. Ganz, ganz lange. Ja, so wird es sein!

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