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Kämpfe in der Nähe von Bachmut.

© AFP/GENYA SAVILOV

Ukrainisches Kriegstagebuch (133): Tränen am Tag des Sieges

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

9.5.2023
Es ist 8.30 Uhr und ich bin auf dem Weg zur Bandprobe. In der Straßenbahn starre ich seit Minuten auf ein Foto auf Facebook und versuche, meine Tränen zurückzuhalten, was mir nicht ganz gelingt. Darauf sind Vater und Sohn zu sehen, die entspannt in die Kamera lächeln. Der Schnurrbart lässt den Vater älter aussehen, aber er ist nicht über 33, denke ich. Der Sohn wahrscheinlich sieben oder oder acht.

Ich bin mir sicher, ganz viele Väter haben solche Bilder, gemacht auf den Spielplätzen und in den Parks ihrer Umgebung. Der Schnappschuss, den ich mir gerade anschaue, wurde in der Westukraine aufgenommen, in einer Stadt, wo ich noch nie war. Den Vater habe ich vor vielen Jahren in Berlin kennengelernt, als er mit seiner damaligen Band irgendwo auf dem RAW Gelände gespielt hat, es war ein ganz tolles, sehr intensives Konzert gewesen.

An diesem Tag haben die beiden einen gemeinsamen Geburtstag. Der Vater wird 48, er ist so alt wie ich. Der Sohn wäre heute 24 geworden, jedoch wird er seit inzwischen fünf Monaten vermisst. Er hat im Osten des Landes gekämpft, seine Mitstreiter vermuten, dass er in einer Schlacht im Dezember 2022 eine tödliche Verletzung erlitten hat.

Der nächste Beitrag in meinem Facebook Feed ist von Anastasiia Kosodii, mit der ich im März und April in Mannheim an der Inszenierung ihres Textes „Wie man mit Toten spricht“ zusammengearbeitet habe. Sie lädt zu zwei weiteren Vorstellungen ein, die diese Woche am Nationaltheater Mannheim stattfinden – und fast drei Wochen nach der Premiere spüre ich ein Verlangen, wieder dabei zu sein und mir es nochmal anzuschauen. Es ist eine der ungewöhnlichsten Theatervorstellungen gewesen, die ich je gesehen habe. Ich kann nur hoffen, dass es eines Tages ein Gastspiel in Berlin geben wird. Theater, das weh tut. Theater, das heutzutage dringend benötigt wird.

In die Straßenbahn sind zwei Typen mit einer roten Fahne eingestiegen. Sie bleiben neben mir stehen. Einer trägt ein rotes T-Shirt mit den großen weißen Buchstaben CCCP auf der Brust, aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke lugt eine Flasche Wodka hervor.

Die beiden unterhalten sich auf russisch, ihr Atem riecht stark nach Alkohol. Diese Kombination – rote Fahne / CCCP / Wodka – lässt mich kurz im Kalender prüfen, um meine Vermutung zu bestätigen: Heute ist tatsächlich der 9. Mai, der Tag, an dem in der Sowjetunion Jahr für Jahr der Sieg über Nazideutschland gefeiert wurde.

Während in der Ukraine man der Opfer des Zweiten Weltkrieges einen Tag früher gedenkt, hat sich in Russland in dieser Hinsicht nichts verändert. Das heißt, dass diese zwei höchstwahrscheinlich Richtung Treptower Park fahren – am sowjetischen Ehrenmal wird es bestimmt wieder Feierlichkeiten geben, auch wenn russische Symbolik, rote Flaggen und Georgsbänder eigentlich verboten sind.

Denke ich an den Tag des Sieges in meiner Kindheit, so erklingen in meinem Kopf automatisch die ersten Akkorde des gleichnamigen Songs. Ich bin mir sicher, im Treptower Park wird er auch auf Schleife gespielt. „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver, es ist ein Feiertag mit grauen Haaren an den Schläfen, es ist Freude mit Tränen in den Augen! Tag des Sieges! Tag des Siiiiieeeeges!“

Die heutigen russen, die nach wie vor so stolz auf den Sieg über Nazis sind, als ob sie ihn 1945 persönlich errungen hätten, sind sich nicht bewusst, dass sie selbst zu Nazis mutiert sind, und Raschismus inzwischen ein gängiger Begriff ist, der die totalitäre Ideologie russlands bezeichnet.

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