zum Hauptinhalt
A view shows a building damaged by a Russian missile strike, amid Russia's attack on Ukraine, in central Kharkiv, Ukraine June 5, 2023. REUTERS/Viacheslav Ratynskyi

© REUTERS/Viacheslav Ratynskyi

Ukrainisches Kriegstagebuch (143): Olexa hat einen neuen Job

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

14.6.2023
Unsere Bühne befindet sich mitten im Robert-Koch-Park in Leipzig-Grünau und wenn wir nicht gerade am Proben sind, herrscht dort Stille. Die Blätter rascheln, die Vögel zwitschern und irgendwo in der Ferne spielt ein Saxofon – wahrscheinlich kommt der Musiker hierher, um ungestört zu üben.

Anhand der Songauswahl schätze ich, dass er auf der Straße musiziert: „Besame Mucho“, „Love Story“, all die Klassiker. Heute übte er außerdem eine Melodie, die ich sofort erkannt habe, „Wal’s Boston“.

In den Achtzigern war dieses Lied in der Sowjetunion äußerst beliebt. Sein Autor Alexander Rosenbaum tritt weiterhin auf. Heute singt er Balladen über die Kinder im Donbass, die von den ukrainischen Soldaten ermordet wurden, und verurteilt in Interviews die Verschwörung des Westens gegen russland.

Die Schallplatte mit „Wal’s Boston“ drauf ist mir noch gut in Erinnerung, mein Opa mochte sie sehr. Ich hätte etwas Nostalgisches empfinden sollen, doch stattdessen überkommt mich einfach nur Übelkeit, wie auch bei jeder anderen Begegnung mit der verdorbenen „russischen Kultur” in den letzten Monaten.

Nach der Probe erhalte ich eine WhatsApp Nachricht von meiner Mutter. Sie möchte wissen, wie es mir geht, was ich esse und wie ich mich zwischen den Proben entspanne. Was soll ich antworten? Mein Yoga ist es, in Plattenläden zu stöbern. Ich bin nach wie vor neugierig, wenn es um Musik geht und möchte bei jeder Gelegenheit anderen die von mir gefundenen Schätze vorspielen, um meine Begeisterung zu teilen.

Ich lege zwar selten auf, habe aber neulich eine Telegram-Kanal namens YuroVision erstellt, um meine Abonnent*innen mit Musiklinks vollzuspammen. Da ich in den letzten Tagen öfter an die Charkiwer Szene der frühen Neunziger denke, nehme ich meine Follower*innen auf diese Zeitreise mit.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Gestern musste ich an ein Konzert denken, das ich 1993 besucht habe – obwohl es bereits 30 Jahre her ist, ist es immer noch frisch in meiner Erinnerung. Die Band Kazma Kazma präsentierte an diesem Abend ihre neue Besetzung. Die Bläser waren verschwunden, es kamen ein nach einem Kirchenorgel klingendes Keyboard und eine Akustikgitarre dazu. Den Gitarristen Olexa Pylypenko kannte ich – in den Cafes, wo sich die Charkiwer Bohème traf, stach er heraus, er war weder ein Hippie noch ein Punk, wie alle anderen. Hätte man mir damals gesagt, er sei ein Priesterseminarstudent, hätte ich mich nicht gewundert.

Direkt nach Kazma Kazma trat er mit seinem eigenen Projekt auf, und wenn Kazma eine der ungewöhnlichsten Bands war, die ich gesehen habe, war dieses nach dem französischen Komponisten Alphonse de Montfroyd benannte Quartett noch seltsamer. Die Bandmitglieder von Alphonse de Montfroyd traten fast nur in Schwarz auf und haben sich auf der Bühne nicht bewegt.

Vom besetzten Haus in Potsdam zurück nach Charkiw

Ihr Repertoire bestand aus französischer Musik des Mittelalters. Auch bei ihren weiteren Konzerten, die ich erlebt habe, musste ich staunen, wie fremd in Charkiw der frühen Neunzigern die Musiker*innen wirkten, und wie offen gleichzeitig ihr Publikum war – wie Erdlinge, die enthusiastisch die Außerirdischen willkommen hießen.

1995 fing für mich in Deutschland ein neues Leben an und so habe ich mich sehr gewundert, eines Abends in Potsdam, wo ich damals gewohnt habe, Olexa zu treffen. Er machte Straßenmusik und lebte in einem besetzten Haus in der Gutenbergstraße, dort habe ich ihn öfter besucht. Irgendwann kehrte er nach Charkiw zurück. In den frühen 2000ern hat er Alphonse de Montfroyd wiederbelebt, diesmal als Ambient-Projekt, bei dem er der einzige Musiker war.

Wir blieben über Social Media sporadisch in Kontakt. In den letzten 20 Jahren hat sich Oleksa mehrmals neu erfunden – als passionierter Motorradfahrer, Weltbummler, Yacht-Kapitän und Reiseleiter. Dabei vermittelte er den Eindruck, sein Leben konsequent und in vollen Zügen zu genießen.

Im Mai entschuldigte er sich bei den Besuchern seiner Webseite, auf der er regelmäßig die zukünftigen Reisetermine veröffentlichte: „Im Moment sind keine weitere Reisen geplant. In meinem Land ist Krieg und wie viele seiner Bürger, muss ich es mit einem Gewehr in der Hand verteidigen.“

Gestern veröffentlichte Alphonse de Monfroyd eine neue EP. Es ist eine Suite für Akustikgitarre.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false