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Zerstörungen in der Myronosytska Straße in Charkiw.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (99): Das Leid der Geflüchteten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

„Bitte nicht die Waffeltorte…bloß nicht die verdammte Waffeltorte!” Das war mein einziger Gedanke, als ich durch das Zentrum von Charkiw zum Sumskyj Markt lief, wo wir uns vorm Haupteingang mit Sina, einer Schulkameradin meiner Mutter, verabredet hatten.

Charkiw ist für die Schokowaffeltorte „Delice“ bekannt.

Zweieinhalb Jahre ist es her, aber ich kann mich noch deutlich daran erinnern! Ich hatte etwas für sie mitgebracht und vermutete, sie würde mir bestimmt auch etwas für die Mutter geben wollen - obwohl ich ganz klar angedeutet hatte, keinen großen Koffer mit mir zu führen, nur Handgepäck. Deswegen sollte es möglichst klein sein.

In Winniza ist es Marmelade, in Kiew sind es die Pralinen „Nächtliches Kiew“, in Odessa der Wein - alles lokale Spezialitäten, die man gern aus den ukrainischen Städten mitbringt. Charkiw ist für die Schokowaffeltorte „Delice“ bekannt, und zwar seit Jahrzehnten. Zu ihrer Legende gehört auch, dass es sonst nirgendwo auf der Welt etwas derartiges gibt. „Delice“ habe ich mittlerweile in Berliner Läden gesehen, doch als ich es das letzte Mal probierte, fand ich den Geschmack gar nicht so gut wie früher. 

Sina und ihre kleine Familie in Pöttmes bei Augsburg untergekommen

An diesem sonnigen Junitag hatte Sina - Gott sei Dank! - keine Schokowaffeltorte dabei, nur ein russisches Buch für meinen kleinen Neffen (der kein Russisch liest). 

Im Dezember 2022 war ich in Charkiw und fand mich in der Myronosytska Straße wieder. Ich habe zwar gelesen, wie stark sie beschossen wurde, aber die Zerstörung mit eigenen Augen zu sehen fühlte sich ganz anders an. Sogar als ich direkt vor den Häusern stand, an denen ich in meinen Charkiwer Jahren so oft vorbei lief, konnte ich es nicht fassen. Noch schwerer fiel es mir zu akzeptieren, dass es Menschen mit klarem Verstand gibt, die diese Zerstörung veranlasst haben.

Ich musste natürlich an Sina denken. Sie wohnte ihr ganzes Leben in der Myronosytska. Ich frage mich, wie es für sie in den Monaten gewesen ist, in denen Charkiw täglich bombardiert wurde. Wie war es, jedes Mal vom dritten Stock in den Schutzbunker zu laufen? Wie kam ihr autistischer Enkel Anton, der mit ihr wohnt, mit dem Ganzen klar? 

Dieses Mal haben wir uns nicht getroffen - im August sind Sina und ihre kleine Familie in Pöttmes bei Augsburg untergekommen. Hier gibt es keine Probleme mit dem Strom, fallen keine Bomben.

Sie hat nun mit Herausforderungen anderer Art zu kämpfen. Das erzählt mir meine Mutter, die mit Sina ständig in Kontakt ist. Obwohl sie als Sozialarbeiterin in Potsdam arbeitet, hat sie oft keinen Rat. Man sollte Antons Diagnose neu bestätigen lassen, um die Vormundschaft anordnen zu können. Aber wie? Sich mit 73 und ohne Deutschkenntnisse damit auseinandersetzen zu müssen, ist schwer für Sina.

Täglich erreichen mich Geschichten von ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland. Gestern schrieb mir eine alte Bekannte, die sich um eine Familie aus Kiew kümmert. Seit Monaten versucht Anna vergeblich, einen Kinderarzt für Sewa zu finden. Dessen Diagnose: Zerebralparese. Keiner konnte uns helfen, schreibt sie, weder Krankenkasse, Gesundheitsamt oder Hilfsorganisationen. Sewa wird der Behinderungsgrad nicht anerkannt. Seine Familie bekommt deshalb keinen entsprechenden Geldzuschuss, der Junge darf nicht zur Schule gehen , es gibt keine passenden Ärzte und daher keine Behandlung. Seit Monaten bearbeitet das Versorgungsamt seinen Fall. 

Leid, Elend, Verwirrung und Hilflosigkeit - auch auf diese Weise bekommen wir hier in Deutschland den Krieg russlands in der Ukraine zu spüren. 

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