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PAUKEN & Trompeten: Unerhörter Orient

Jörg Königsdorf über deutschtürkische Versuchungen

Berlins deutschtürkische Bevölkerung darf sich gebauchpinselt fühlen: Nachdem sich jahrzehntelang kein Mensch darum geschert hat, ob sie sich für klassische Musik interessieren, sind sie plötzlich bei den Orchestern der Stadt zur heiß umworbenen Zielgruppe avanciert. Kaum drei Wochen ist es her, dass das Konzerthaus-Orchester mit „Faszination Orient“ erste Integrationssignale ausgesandt hat, setzen diese Woche das Deutsche Symphonie-Orchester und die Berliner Philharmoniker den Reigen um die „Minderheit des Jahres“ fort. Am Dienstag wirbeln die berühmten tanzenden Derwische aus Istanbul im Kammermusiksaal zu christlicher Musik des Mittelalters und eröffnen damit die neue Philharmoniker-Reihe „Alla Turca“, tags drauf tut sich das DSO in der Philharmonie mit dem Ensemble des Konservatoriums für türkische Musik Berlin zusammen und läutet unter dem Titel „Klangkulturen“ eine Konzertserie der Rundfunkorchester und -chöre ein. Das ist sicher gut gemeint und bietet auch Konzertbesuchern ohne Migrationshintergrund die Möglichkeit, allerlei interessante Musik kennenzulernen. Nicht nur, dass die unabhängig voneinander initiierten Projekte mal wieder zeigen, wie weit Absprachen unter den Berliner Orchestern gedeihen, auch haben die orientalischen Farbtupfer mit der regulären Programmplanung nach wie vor beklagenswert wenig zu tun. Jeder Deutschtürke, der am Mittwoch Sertab Erener mit türkischen Liedern und Fazil Say mit seinem dritten Klavierkonzert „The Silence of Anatolia“ in der Philharmonie erlebt hat, dürfte enttäuscht feststellen, dass Sinfonieorchester eine Ausprägung der europäischen Musikkultur sind. Wäre es da nicht ehrlicher, gleich Mahler zu spielen?

Jörg Königsdorf

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