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Der 89-jährige Urs Jaeggi stellt im Pumpenraum aus. Unter anderem platzierte er an einer der Stützen einen Zettel mit dem Satz „Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht erklärt hätte“.

© Christian Schneegass

Urs Jaeggi in Birkenwerder: Der Traum von einer anderen Welt

Der Berliner Multi-Künstler und Soziologe Urs Jaeggi verwandelt in Birkenwerder das alte Wasserwerk in einen fantastischen Ausstellungsort.

Es scheint nichts zu geben, was dem mittlerweile 89-jährigen Künstler und Schriftsteller Urs Jaeggi, der als Soziologe in Bern, Bochum, New York und Berlin lehrte, in seinem vielfältigen Schaffen einen Stillstand erlaubte – oder ihm auf seinem weiten Feld der Forschung nicht als kunstwürdig erscheint.

Der kulturell engagierten Gemeinde Birkenwerder bescherte er vor einem Jahr ein über sieben Meter breites Wandbild mit dem Titel „einer und andere“. Darauf huschen schwarz getuschte, abstrakte Gestalten an roten, blauen, gelben Quadraten vorbei, die sich dynamisch verstricken, darunter eine vogelartige Figur.

Zusammen mit anderen Graffitis ziert Jaeggis Werk eine lange Mauer, eine Open-Air-Galerie, die zu einem vom örtlichen Kulturverein (Kulturpark Birkenwerder e.V.) eingerichteten Skulpturenboulevard führt, der die Gemeinden Birkenwerder und Hohen Neuendorf miteinander verbindet. Hier werden inzwischen an 16 Standorten Werke präsentiert.

Mittlerweile ist Jaeggis flächengreifendes Graffiti – Streetart im schönsten, auch heitersten Sinn – versiegelt und zum dauerhaften Wandbild geadelt. Anlass war die Eröffnung seiner Ausstellung „sind wir und wo?“ im Pumpenraum des benachbarten, längst stillgelegten Wasserwerks.

Die Ausstellung ist eine Inauguration, denn das 1912 erbaute Wasserwerk, eine nunmehr baufällige Ruine, soll zu einem Kulturhaus umgebaut werden. In der künftigen „Kulturpumpe“ aber bleiben einige Teile wie das riesige Antriebsrad und die Pumpsäulen als denkmalgeschützt erhalten.

Jaeggi huldigt dem Vorhandenen

Mitsamt dem Röhrengeflecht und all der Patina übt der Ort eine Faszination aus, die an den Film „Modern Times“ erinnert. Ein wie für Jaeggi geschaffener Ort, den er vor dem Teilabriss mit all seinem Schutt und seinen inwendigen Schätzen noch einmal inszenierte und dadurch als künftigen Kulturort markiert.

Wie für ihn typisch und ähnlich wie vor vier Jahren in der Berliner Malzfabrik arbeitet der Künstler respektvoll mit den Gegebenheiten des Orts, in der Spannung zwischen Eigenem und Fremdem.

[www.kulturpark-birkenwerder.de]

Jaeggi huldigt dem Vorhandenen, indem er Ventile, Zahnräder und Rohre farbig markiert, einzelne Steine aus dem Schutt neu arrangiert oder einem kleinen Stein ein E aufmalt. Dieser wird zu einem neuen Würdenträger, der an die Buchstabenklötzchen von Setzkästen und zugleich an die Jaeggi-typische Verbindung von Bild und Schrift erinnert.

Einige der Pumpsäulen mit ihren Kugelhauben wurden vom Staub der Jahre befreit, ihr dunkelgrüner Lackanstrich zeigt sie nun in mattem Glanz. Die weißen Backsteinmauern und abblätternden Wände – manche gleichen ihrerseits abstrakter Bildkunst – hat der Künstler mit eigenen Arbeiten drapiert.

Neue Perspektiven und Assoziationen

Dadurch gliedert er die Flächen, akzentuiert Nischen und Vorsprünge und macht den fremden Raum durch die eigene Hand(schrift) neu sichtbar. Das geschieht immer diskret und respektvoll, gleichsam in Augenhöhe mit dem Gegebenen.

Einige von Jaeggis Werken – schwarz-weiß getuschte Schriftbilder, Übermalungen und abstrakte Zeichnungen, darunter drei Bilder von „Flüchtlingen“ – sind aus früheren Ausstellungen bekannt. Sie öffnen sich in der anderen Umgebung neue Perspektiven und Assoziationen und laden zugleich den Ort seinerseits mit neuer Bedeutung auf.

Kunst als Lebenselixier

Staunen lässt eine Collage von 1974 mit dem Titel „Alptraum“, die in der ruinösen Umgebung geradezu wohltuend wirkt. In ihrer ungewohnten Farbigkeit scheint sie eher wie ein Traum all der still gestellten, ihrer Funktion beraubten Dinge, die hier ihre späte künstlerische Würdigung erfahren. Als Traum von einer anderen, vielleicht gerechteren Welt.

Mehr noch. Diese dichte, konzentrierte Ausstellung erzeugt einen zusätzlichen Sinn, indem sie zeigt, was Kunst zu leisten vermag, wenn sie wie bei Urs Jaeggi dem buchstäblich Werktätigen verbunden bleibt.

Sie erinnert daran, dass wir Kunst zum täglichen Leben brauchen wie das Wasser, das hier einst das große Rad antrieb. Beide, Kunst wie Wasser, sind Kulturgut und Lebenselixier gleichermaßen.

Noch zwei Mal, im 13. September zum Tag des offenen Denkmals und am 11. Oktober zum Europäischen Tag der Restaurierung (jeweils 11 Uhr), wird der Ort für das Publikum begehbar sein, verbunden mit einem Gedichtvortrag des Künstlers im improvisierten Dialog mit dem Saxophonisten Frank Gratkowski: als sei Kunst das natürliche Wirken des Menschen, das keine (Felder-)Grenzen, keine Hierarchien, kein Alter und kein Ende kennt.

Marleen Stoessel

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