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Kultur: Vamik Volkan analysiert die Psyche ethnischer Gruppen

Vergleicht man die Kriege des letzten Jahrzehnts, so fällt im Vergleich zu früher die Bedeutung von Ethnizität auf. Wo zu Zeiten der Ost-West-Teilung von Politik die Rede war, scheint bei den Spannungen in Nahost, in den GUS-Staaten oder auf dem Balkan fast nur noch der Hass zwischen Volksgruppen eine Rolle zu spielen.

Vergleicht man die Kriege des letzten Jahrzehnts, so fällt im Vergleich zu früher die Bedeutung von Ethnizität auf. Wo zu Zeiten der Ost-West-Teilung von Politik die Rede war, scheint bei den Spannungen in Nahost, in den GUS-Staaten oder auf dem Balkan fast nur noch der Hass zwischen Volksgruppen eine Rolle zu spielen. Westlichen Beobachtern fällt es schwer, das Ausmaß dieser Zwietracht zu verstehen. Da ökonomische oder politische Motive auf den ersten Blick keine Rolle mehr spielen, macht es den Eindruck, als müsse man die Konfliktgründe in der Psychologie suchen. Dies tut der Psychoanalytiker Vamik Volkan. Er hat an der University of Virginia ein Forschungszentrum gegründet, welches sich mit "psychologischen Mechanismen ethnischer Konflikte" befasst. In seinem neuen Buch "Blutsgrenzen" erläutert er seine Ideen an Beispielen aus den Krisenregionen. Der Psychoanalytiker hält ethnische Identität und ein gewisses Maß an Ethnozentrismus für "gesund und akzeptabel". Dabei vergleicht er Ethnizität mit einem Zelt: Sie fungiere als "lose Umhüllung, die das Individuum so schützt, wie ein Elternteil oder eine andere Bezugsperson ein Kind behütet". Problematisch werde es erst, wenn das Zelt in Gefahr ist, wenn Rassismus zu Selbstüberschätzung führe oder wenn Identitätsverlust drohe.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Analytiker dem Phänomen des "gewählten Traumas". Dabei handelt es sich um die gemeinsame Erinnerung an ein besonders schmerzhaftes Ereignis der Vergangenheit. Wird dieses Trauma aktiviert, dann bricht bei den Angehörigen der ethnischen Gruppe das Zeitgefühl zusammen: Sie verhalten sich, als hätten sie dieses Ereignis selbst erlebt. Volkan berichtet von einem Zusammentreffen israelischer und ägyptischer Repräsentanten 1980 in den Vereinigten Staaten, bei dem die Teilnehmer sofort begannen, sich gegenseitig die von der anderen Gruppe begangenen Untaten vorzuhalten. Dabei tauchten Ereignisse auf, die mit der aktuellen Situation nichts zu tun hatten. Die Israelis wiesen auf zahlreiche arabische Übersetzungen der "Protokolle der Weisen von Zion" hin, einer der schlimmsten antisemitischen Hetzschriften. Es ließ sie vollkommen kalt, als die Ägypter von den in Israel verbreiteten antiarabischen Pamphleten sprachen. Eine verkapselte Konkurrenzsituation: Beide Seiten zeigten "isoliertes Interesse an der eigenen Hilflosigkeit und den eigenen Verlusten" und gerieten in einen "Wettstreit darüber, wer denn nun mehr gelitten habe". In die verfahrene Situation kam erst Bewegung, als ein Mitglied der arabischen Delegation einem Israeli zugestand, auch Unrecht erlitten zu haben.

Ein Paradebeispiel für ein "gewähltes Trauma" ist nach Volkans Auffassung die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, bei der die Serben den Osmanen unterlagen. Allerdings wird an diesem Beispiel auch die Problematik seiner psychologischen Herangehensweise deutlich. Volkan bezeichnet das Trauma zwar als "gewählt", also als schieres Symbol für den ethnischen Zusammenhalt, nichtsdestotrotz fühlt er sich aufgerufen, die Geschichte der Serben vom Mittelalter bis heute zu rekonstruieren. Damit geht er der nationalistischen Mythologie auf den Leim, denn nationale Traditionen wurden im neunzehnten Jahrhundert erst erfunden. Tatsächlich gibt es überhaupt keine Kontinuität irgendeiner Einheit namens "serbisches Volk" zwischen 1389 und 1800. Auch wenn der Begriff des "gewählten Traumas" durchaus nützlich erscheint, wäre es notwendig, den politischen Kontext der Entstehung solcher "Traumata" zu thematisieren, im Falle des Amselfeldes etwa die Rolle des Westens als Stichwortgeber in Sachen Balkan-Nationalismus, die Abgrenzungsbestrebungen des jungen serbischen Staates gegen das Osmanische Reich oder auch die Bedeutung des Staates allgemein für die Vereinheitlichung von Nationalkultur.

Wenn es nun in die Praxis gehe, betont Volkan, sei die erste Tugend des Völkertherapeuten Neutralität. Allerdings tut sich der Sohn einer türkischen Familie aus Zypern mit der Unparteilichkeit selbst schwer. So zieht er ausgerechnet den türkischen Botschafter als Zeugen für eine "Türkenparanoia" der Serben heran. Dieses Zeugnis wirkt seltsam angesichts der Tatsache, dass eine türkische Zeitung die Entsendung des eigenen Kontingents ins Kosovo kürzlich feierte, als sei dies die Reconquista des Balkans. Auch dass die Türkei den bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic unterstützte, scheint ihm kein Grund für serbische Ängste.

Selbstverständlich legt Volkan auch die Griechen auf die Couch. Deren Versuch, in den zwanziger Jahren die griechischen Siedlungsgebiete in Kleinasien zu erobern, führt er darauf zurück, dass nach der Unabhängigkeit kein starker "Führer" die Kontrolle übernahm. Solch ein guter, ödipaler Vater hätte das in der Entwicklung befindliche Kind in seine Grenzen gewiesen. Die Türkei dagegen, meint er ernsthaft, hätte in Atatürk einen "unumstrittenen, charismatischen", gar "heilenden Führer" gehabt. Angesichts von soviel Begeisterung über die große "Vaterfigur" hält es Volkan nicht für nötig, die Verfolgung der Griechen im Osmanischen Reich zu erwähnen oder die Gräueltaten des "heilenden Führers" an politischen Feinden, Armeniern und Kurden. Tatsächlich betrachtet er einen "Führer", der dem Menschen ein sicheres ethnisches "Zelt" geben kann und der psychologisches Gespür besitzt, um mit Ambivalenzen umgehen zu können, als Voraussetzung für eine Lösung aktueller Konflikte.

Die vielen Stimmen einer Demokratie passen schlecht auf eine Couch. Auch lässt Volkan unerwähnt, dass Ethnizität als "Zelt" gerade in Mode kam, als immer mehr Menschen um das Dach überm Kopf fürchten mussten. So schätzt man mittlerweile im Westen "gute" ethnische Führer, die ihr armes Volk ohne materielle Grundlage zusammenhalten. Sollte einer dieser "Führer" seine Grenzen nicht kennen, kommen Psychologen wie Volkan, um darüber zu reden. Und wenn alles nichts hilft, kommt der ödipale Übervater aus Washington - und schafft Ordnung. So wird Völkertherapie im neoliberalen 21. Jahrhundert wohl zum Ersatz für Politik.Vamik Volkan: Blutsgrenzen. Die historischen Wurzeln und die psychologischen Mechanismen ethnischer Konflikte und ihre Bedeutung bei Friedensverhandlungen. Scherz-Verlag, München 1999. 351 Seiten, 49,80 DM.

Mark Terkessides

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