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Abgründige Schönheit. Ein norddeutsches Moor mit Wollgras im abendlichen Gegenlicht.

© imago images/Countrypixel

Vergangenheit und Zukunft der Agrargesellschaft: Das Lied von den Moorbauern

Uta Ruge verwebt Kindheitserinnerungen, Weltpolitik und das Landleben von heute zu einer packenden Saga.

Waldemar weigert sich. Er glaubt nicht, dass sich irgendjemand für das Leben von Landwirten interessiert. Also will er auch nicht der Held eines Buches über Bauern sein. Sie seien doch auf den Dörfern längst eine Minderheit, knurrt er seine Schwester Uta Ruge an. Die hat viele Jahre im In- und Ausland für Zeitungen und Hörfunk gearbeitet.

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Nun lebt sie in Berlin und fährt nur noch zu Besuch auf den niedersächsischen Hof, von dem sie stammt. „Auch auf dem Land fühlen sich die meisten durch uns nur gestört“, schnaubt Waldemar. Durch die schweren Maschinen auf den Dorfstraßen, die Silagehaufen, den Viehgestank, die Maisfelder. Ergrimmt steht der Landwirt auf und schleudert der Städterin noch einen Satz zu, bevor es wieder raus auf den Hof geht: „Hauptsache, eure Kühlschränke sind voll.“

Die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Eigen- und Außenwahrnehmung der Landwirtschaft ist in Uta Ruges bewegendem und zugleich analytischem Buch „Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang“ immer mitgedacht. Anders geht es angesichts des Imageverlusts der konventionellen Landwirtschaft besonders aus urbaner Perspektive gar nicht.

Berufszweig unter Generalverdacht

Die stellt – angefacht von den längst spürbaren Folgen der Klimakatastrophe und diversen Lebensmittelskandalen – den ganzen Berufszweig unter Generalverdacht. Der altehrwürdige Bauernstand hat sich im öffentlichen Bild zu einer agroindustriellen Bande von Grundwasservergiftern und Tierquälern verwandelt. Dem gegenüber steht der romantisch verklärte neue Kleinbauer, der, frustriert von urbanen Leben, im entvölkerten ländlichen Raum aufgelassene Höfe pachtet, alte Ziegen- und Schafsrassen züchtet und eine Käserei für Connaisseure unterhält.

Von diesen Stereotypen will die Bauerntochter Uta Ruge nichts wissen. Mehr noch, sie will sie auflösen. Und so ist ihr von der angelsächsischen Sachbuchtradition geprägter Wälzer, der leichthändig das Subjektive der Ich-Erzählerin mit einem Faktengewitter verknüpft, auch eine Ehrenrettung des Bauerntums. Und zugleich ein bestürzendes Stimmungsbild der Menschen, die die Lebensmittel erzeugen, die in Deutschland so sicher und billig sind wie nie zuvor.

„Wachsen oder weichen“. Dieses Credo bestimmt seit den sechziger Jahren den ländlichen Strukturwandel, wie es jüngst der Kulturgeograf Werner Bätzing in seiner ebenfalls von Realismus und Sympathie fürs Dorf getragenen Studie „Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform“ dargestellt hat.

Mais wird zu Biogas

In Neubachenbruch im Landkreis Cuxhaven, wo der Hof steht, den Ruges Bruder zusammen mit Ehefrau und Sohn bewirtschaftet, heißt das: Von ursprünglich 20 Höfen sind vier noch aktiv. Ebenso wichtig – manchmal wichtiger – als die Nahrungsmittelproduktion sind inzwischen erneuerbare Energien. Ein guter Teil des Maisanbaus wandert in Biogasanlagen. Auf Waldemars Hof, der der Autorin über mehrere Jahre und Jahreszeiten als Exempel dient, liefert Maissilage das Futter für 150 Kühe.

In erzählerischer Dreifelderwirtschaft verwebt Uta Ruge Parallelstränge: die Situation auf dem Hof und im Dorf heute, die sie in vielen Gesprächen recherchiert und mit detaillierten Schilderungen bäuerlicher Arbeiten wie Melken, Säen, Füttern und Ernten illustriert. Der Stich Arbeitswelt-Reportage, den „Bauern, Land“ hier bekommt, hat seinen Sinn.

Wer kennt sich schon noch mit Grubbern, Drillen und Melkrobotern aus? Neben diesem „Heute“ steht „Damals“, also das persönliche Erinnerungsgeflecht von Uta Ruge, deren Eltern als DDR-Flüchtlinge 1957 auf Pump einen verlassenen Bauernhof im Sietland zwischen Weser und Elbe erwerben.

Die Tochter ist vier Jahre alt, als sie mit der Familie nach Neubachenbruch zieht. Schnell lernt sie, wie sehr die nie endende Arbeit, das Leben nach dem Wetter, das Sorgen für die Tiere die Menschen seelisch und körperlich formt. Diese mitunter poetisierten, aber keinesfalls romantisierten Erinnerungen an die bäuerliche Kultur des Arbeitens und Feierns auf dem Dorf in den Fünfzigern und Sechzigern, bevor das Höfesterben Dörfer zu Pendler-Schlafstätten degradierte, gehen zu Herzen.

Dem Torf abgetrotzte Flecken

Anders als die raue Geschichte Neubachenbruchs. Eines im Zuge der Moorkolonisation des 18. Jahrhunderts dem Wasser und Torf abgetrotzten Fleckens, der mal unter hannoverscher, mal unter französischer, mal unter preußischer Herrschaft stand.

Traditionell bevölkert von einem mit Missernten vertrauten Menschenschlag, der sich weder aus Kirche noch Obrigkeit viel machte – und nur dank unbedingter Nachbarschaftshilfe, dem Gesetz der Moorbauern, überlebte. Diese Siedlersaga, die den Herrschenden mehr Steuern, Nahrung und Untertanen bringen sollte, hat Uta Ruge aus Kirchenbüchern, Schul- und Hofchroniken zusammengetragen.

Das Ergebnis ist weit mehr als eine Dorfchronik. Vielmehr zeichnet „Bauern, Land“, wie der Untertitel verspricht, gleichzeitig die Geopolitik der Zeit und die Geschichte des Bauerntums nach. Samt dessen sich wandelnder Rezeption. Die Auf- oder Abwertung des naturgemäß stummen, weil kaum Selbstzeugnisse produzierenden Standes durch andere, die sogar schon in der Antike Städter waren, reflektiert Ruge in „Zwischenspielen“, in denen es beispielsweise um die Bauerndarstellungen Brueghels, Van Goghs und Malewitschs geht. Oder um antike Schriften.

Romantisierung bis zur Ideologisierung

Auf Catos Werk „De agri cultura“, in dem er nüchtern über gewinnorientierte Landwirtschaft schreibt, folgen einige Hundert Jahre später Schriften von Vergil und Horaz, die ein idealisierendes Lob des in der Natur arbeitenden Menschen singen. Und das in einer Zeit, als nur leibeigene Sklaven die Felder bestellen.

Von dieser Romantisierung bis zur Ideologisierung unter Nazis und Kommunisten ist der Weg nicht weit. Womöglich auch nicht bis zum heutigen Liebesentzug für den mit stets neuen Projektionen der Harmonie zwischen Mensch und Natur überzogenen Beruf.

Ruge jedenfalls, die die EU-Agrarpolitik als Taschenfüller von Großunternehmen bezeichnet, verordnet Bauern, Tieren und Böden ein menschliches Maß: „Wenn die Erzeugerpreise hoch genug wären, dass z.B. 50 Hektar Land und 50 Kühe ausreichten – egal ob bio oder konventionell –, dann wäre die Arbeit zu schaffen.“ Mal sehen, ob Waldemar mitmacht.

Uta Ruge: Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. 480 Seiten, 28 €.

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